24. April 1999, Magazin der Basler Zeitung (Nr. 16) [Hier klicken für die Zeitungsausgabe des Textes] Auf die Passaffäre aufmerksam geworden,
beschlagnahmte die Polizei bei Chaim Israel Eiss, dem ostjüdischen
Korsettmacher in Zürich, neun grosse Bögen, auf denen mit weissem
Faden Fotos von Menschen aufgenäht waren, die in höchster Gefahr
schwebten und um Ausweise baten. Ein weiterer Bogen war in der gegen Eiss
verhängten Postkontrolle hängengeblieben. Vergebens warteten
die auf den 264 Fotos abgebildeten über 300 Personen in Polen auf
die erhofften Pässe, und Eiss verstarb noch im selben Jahr. Kühl, der aus dem polnischen Sanok in Galizien stammte, war Halbwaise und kam als Junge in die Schweiz – an eine kleine jüdische religiöse Schule in Baden. Seine sehr gebildete Mutter blieb in Polen zurück. Kühl, der ursprünglich Rabbi werden wollte, erlangte an der Minerva-Schule in Zürich die Hochschulreife und studierte schliesslich an der Uni Bern Wirtschaftswissenschaften. Seine Dissertation über "Die schweizerisch-polnischen Handelsbeziehungen" (Bern 1939), die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erschien, wurde in der Presse ausführlich zur Kenntnis genommen. Die "Berner Zeitung" brachte am 14. November 1939 einen Auszug aus dem Buch auf der ersten Seite. Bei seinen Besuchen auf der polnischen Gesandtschaft hatte Kühl einen so guten Eindruck hinterlassen, dass der frischgebackene Jurist sofort in den Dienst übernommen wurde. Er hatte sich zunächst um die polnischen Militär-Internierten zu kümmern, und da der polnische Gesandte Alexander Lados selbst nichtjüdisch war, wurde Julius Kühl für diesen schnell zur rechten Hand in allen Fragen, die jüdische Flüchtlinge betrafen. So fiel es Julius Kühl zu, in dieser furchtbaren Zeit durch Ausstellen und Organisieren von Ausweisschriften für die Verfolgten und durch die Übermittlung von Nachrichten über die Schoa, die aus Polen und anderen europäischen Ländern in die Schweiz gelangten, Leben zu retten und die Welt aufzurütteln. Von der polnischen Gesandtschaft aus, die als kontinentaleuropäische Relaisstation wirkte, gingen die Meldungen in die ganze Welt. Julius Kühl war zwar nur ein Glied in einer langen Kette von Funktionsträgern, wirkte aber dank seiner Festigkeit und inneren Überzeugung wie ein Anker. Mit am Telegrafen sass bei der Übermittlung der Nachrichten über Flüchtlinge und über die Vernichtung der Juden Stanislaw Nahlik, der Chiffrierspezialist in der Polnischen Gesandtschaft. "Bis tief in die Nacht bedienten wir den Telegrafen", schrieb Julius Kühl 1988 in seinen nur für die Familie bestimmten Erinnerungen, "und wechselten alle paar Wochen die Codes, um mögliche feindliche Entzifferungsversuche zu vereiteln." Die Stadt Bern bildete damals eine Art Auge des Hurrikans, überall anders tobte der Krieg, nur hier sassen die Vertreterinnen und Vertreter der verfeindeten Staaten in den Bars und an den Empfängen und Abendgesellschaften beieinander, um sich ihren Teil zu denken. Bern war entweder ganz Oberfläche oder ganz Untergrund, und beide Welten schienen sich kaum je zu berühren, höchstens in der Nacht, in den engen Gassen der Stadt und den einsamen verdunkelten Strassen entlang der wie Tinte unter den hohen Brücken durchfliessenden Aare. Nahlik und Kühl übermittelten auch die berühmte, aber leider unerfüllt gebliebene Bitte des Rabbi Michoel Ber Weissmandl an die Alliierten, die Eisenbahnlinien, die zum Todeslager Auschwitz führten, zu bombardieren. Ins Auge springen die Schwierigkeiten, die die Behörden Kühl, der Retter Unzähliger werden sollte, von Anfang an bereiteten. Fristen zur Ausreise waren ihm schon während der Ausbildung und dem Studium immer wieder gesetzt worden (E 2001 [E]; 1; Bd. 40), etwa eine zum 1. Mai 1940, die nur darum nicht wirksam wurde, weil Kühl in den Dienst der Polnischen Gesandtschaft übernommen wurde. Jahre später, als er längst in Nordamerika lebte, bekannte Julius Kühl der Journalistin Gisela Blau in einem Telefongespräch: "Ich träume heute noch von Dr. Rothmund" – dem Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement ("Blick", 19. 5. 1979). Steine legten die Schweizer Behörden Julius Kühl allein schon dadurch in den Weg, dass sie sich weigerten – nach Aussagen eines Chefbeamten "aus rein politischen Gründen" (28. Mai 1941) – seinen diplomatischen Status anzuerkennen, der sich in der Abgabe einer sogenannten blauen Karte ausgedrückt hätte. Denn Polen war seit 1939 von Deutschland (und der Sowjetunion) besetzt und existierte ja als Staat gar nicht mehr. Aus Rücksicht auf deutsche Em-pfindlichkeiten erschien da die "Vermehrung des Personals dieser diplomatischen Mission" ganz allgemein als "unerwünscht". Obwohl Kühl im Oktober 1943 mit Yvonne Fernande Weill, der Sekretärin des in Flüchtlingsfragen äusserst engagierten Berner Anwalts und Freundes Dr. Georges Brunschvig, die Ehe einging und sie Kinder bekamen, wurde Kühls Aufenthalt in der Schweiz weiterhin nur "toleriert", und wiederholt wurde im Eidgenössischen Politischen Departement darüber diskutiert, ob nun "die Entlassung des Herrn Dr. Kühl aus dem Dienst der polnischen Gesandtschaft" verlangt werden solle oder nicht (10. Mai 1944). Trotz seiner prekären Lage nahm Kühl
nie ein Blatt vor den Mund. Da er am Morgen auf dem Weg in die Gesandtschaft
oft dasselbe Tram benützte wie Bundesrat von Steiger, der Vorgesetzte
von Heinrich Rothmund, dem Chef der Polizeiabteilung, soll er diesen gemäss
Gisela Blau, die sich noch genau an dieses Detail aus dem damaligen Telefoninterview
mit Kühl erinnert, gelegentlich mit ironischen Worten begrüsst
haben, wenn das Tram ziemlich besetzt war: "Guten Morgen, Herr Bundesrat,
heute ist das Boot wieder einmal sehr voll, nicht wahr" – was diesen jeweilen
sehr verärgert haben soll. "Der Nuntius half oft mit Kurieren aus, wenn wir südamerikanische Pässe nach Polen schicken wollten", erinnerte sich Kühl in seinen Memoiren. Selbst von der Sabbat-Ruhe, schrieb Kühl, wollte die streng orthodoxe Recha Sternbuch nichts wissen, wenn Menschenleben auf dem Spiel standen; auch aus der Feier der Bar Mitzwa ihres Sohnes lief sie weg, als das Telefon ging und ihre Hilfe nötig wurde, um die Abschiebung junger Männer zu verhindern, die bei einem verzweifelten Grenzübertritt festgenommen worden waren. Um seine guten Beziehungen zum polnischen Gesandten Alexander Lados, der alle seine offenen und geheimen Hilfsanstrengungen für die Verfolgten deckte, einerseits und zum päpstlichen Nuntius Bernardini andererseits zu erhalten, widmete Julius Kühl seine Sonntage ganz dem Unterhaltungsbedürfnis von Lados und Nuntius Bernardini, indem er jeden Sonntagmorgen mit ersterem Schach und am Nachmittag mit letzterem Pingpong spielte. Nichts bietet einen direkteren Zugang zur Figur Julius Kühl als diese scheinbar harmlosen und doch so ernsten Spiele. Denn vielleicht bildete sich Julius Kühl nur ein, Schach spielen zu müssen und sich dabei jede erdenkliche Mühe zu geben, gegen Alexander Lados, seinen Chef, nicht zu gewinnen, denn dieser war ihm gut gewogen, und dabei sollte es bleiben, schon um die Freundschaft und die an ihr hängenden Rettungsmöglichkeiten für die Verfolgten nicht zu gefährden. Vielleicht war diese Rücksicht ganz unnötig und wäre der katholische Lados ein guter Verlierer gewesen. So wie der päpstliche Nuntius – die Einzelheiten verriet Kühl in diesem zweiten Fall zwar nicht. Aber Kühl, der in Polen den offenen Antisemitismus sozusagen als Normalfall kennengelernt hatte, traute diesem sonntäglichen Frieden vermutlich nicht, stand insgeheim vielleicht um so grössere Ängste aus, je freundlicher die Stimmung war. Denn es herrschte Krieg, und jeder Fehler konnte der letzte sein. Diese Sonntage jedenfalls mitverdorben hatten
auch die Schweizer Behörden, weil sie ihn nicht als ordentlichen
Diplomaten akzeptierten. Nur deshalb war der allseits geschätzte
Kühl auch so abhängig von Lados, dem polnischen Gesandten. Obwohl
dieser kaum daran dachte, diese Macht auszunutzen, war das Machtgefälle
doch real und konnte sich Kühl nicht gegen den Gedanken wehren, dass
ihm von einem Tag auf den anderen der Boden unter den Füssen weggezogen
würde. Denn wo das, was ein Recht darstellt, nicht fixiert ist, erscheint
es leicht als blosse "Gunst". Julius Kühl erklärte in einem Verhör vom 18. Januar 1943: "Die Passformulare wurden jeweilen bei Hügli abgeholt und dann von Konsul Rokicki ausgefüllt und nachher dem Konsul Hügli zur Unterschrift wieder zurückgebracht. Letzteres besorgte ich meistenteils. Für die Passausstellung bezahlten wird dem Hügli je nach Fall und Personenzahl Beträge von ca. Fr. 500.– bis Fr. 2000.–. Weder die Gesandtschaft, noch das Konsulat [von Paraguay], noch ich persönlich hatten bei der ganzen Aktion irgendwelchen Vorteil." Blosse Bescheinigungen erlangter Staatsbürgerschaft, die dann ausgestellt wurden, wenn die Bilder nicht eintrafen, waren günstiger und kosteten im Fall von Paraguay nur Fr. 100.–. Die Pässe liess Hügli an der paraguayischen Regierung vorbei, die bereits 1938 jede Visaerteilung an Juden verboten hatte, in einer Berner Druckerei heimlich nachdrucken. Hügli war Jahrgang 1872 und hatte, wie aus Kreisen seiner Familie zu erfahren war, eine Zeitlang als Schweizer Diplomat in der amerikanischen Hauptstadt gewirkt. Er war einer der ersten gewesen, die in Bern Golf spielten, und gründete den Golfklub am Gurten sowie den Tennisclub Bellevue. Auch einen "Regenwetterclub" rief er ins Leben. Ausserdem organisierte er zusammen mit seiner Frau Fanny, die für ihre Stilsicherheit bekannt war und auch Bilder malte, im Hotel Schweizerhof renommierte Bälle. Zum grossen Bedauern blieb die Ehe kinderlos. Hüglis Eltern hätten jeden Tag in der Bibel gelesen und ihn sehr religiös erzogen. Er sei bestürmt worden mit Gesuchen von
Leuten, die von ihm als Konsul von Paraguay Hilfe erwarteten. Der Historiker
Gaston Haas ("Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich
abspielte...", Basel 1994) zitiert Rudolf Hügli mit den Worten: "Ich
suchte anfänglich diesem Ansturm zu entgehen, indem ich mich für
diese Leute unsichtbar machte. Ich verreiste sogar mehrmals, um Ruhe von
[ihnen] zu haben." Vor allem der Einsatz von Kurieren war teuer.
Neben Rudolf Hügli lieferten auch der Sekretär beim Generalkonsulat
von El Salvador in Genf, Georges M. Mantello, und der Generalkonsul der
Dominikanischen Republik, Alfons Bauer, der bis Mai 1941 noch Konsul von
Honduras gewesen war, diese Gefälligkeitspässe; in geringerem
Masse auch der Generalkonsul von Peru in Genf, Gaston Barreto. Eine Unvorsichtigkeit
wurde letzterem im August 1943 zum Verhängnis. Der peruanische Gesandte
Calderon, der einen von Barretos geheim ausgefertigten Pässe in die
Hand bekam, enthob ihn seines Postens. Abraham Silberschein und Fanny
Hirsch, seine Partnerin, die sich mit Hilfe von Nuntius Bernardini mutig
für Barretos Verbleiben eingesetzt hatte, wurden in die Affäre
hineingezogen und am 1. September 1943 von der Genfer Polizei verhaftet. Wegen der paraguayischen Pässe war auch die amerikanische Gesandtschaft in Bern unruhig geworden. Nicht nur hatte sie, Silberschein zufolge, die polnische Legation ihre Unzufriedenheit wissen lassen, sondern sich auch schon "mehrmals vertraulich" im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement "erkundigt", wie Bundesrat Eduard von Steiger am 21. Juli 1943 seinen Kollegen vom Politischen Departement, Marcel Pilet-Golaz, informierte, weil sie die Befürchtung hege, "dass Herr Kon-sul Hügli, bewusst oder unbewusst, Agenten von Achsenstaaten paraguayische Ausweispapiere verschafft". Anlass dafür war der Fall des einzigen
reichsdeutschen und zudem nichtjüdischen Flüchtlings, Oskar
Hörrle, dem Hügli im November 1942 einen paraguayischen Pass
ausgestellt hatte und der am 19. Mai 1943 aus dem Interniertenlager Moudon
geflohen und spurlos verschwunden war. Vittel und Compiègne wurden "ausgekämmt", wie der Schweizer Gesandte in Berlin, Frölicher, am 15. Mai 1944 Bundesrat Pilet-Golaz schrieb. Laut einer Liste, die den Amerikanern vorlag, waren 238 Menschen abgeholt worden. Die schweizerische diplomatische Vertretung in Paris konnte 163 Namen in Erfahrung bringen. Die Schutzmachtabteilung der Schweizer Gesandtschaft in Berlin hielt damals fest, sie hätte sich "auch in der Folge immer vergeblich bemüht, den Spuren dieser früheren Insassen des Lagers Vittel nachzugehen, aber diese Spuren wurden mit der Sorgfalt verwischt, die hier bei allen Judenmassnahmen angewendet wird". Es handle sich um "Massnahmen der Polizeibehörden, die übrigens auf allerhöchste Weisung hin erfolgen" (4. 8. 1944). Das alles geht aus im Bundesarchiv lagernden Quellen hervor (E 2001.02.11, Bd. 9). Zu spät nahm Paraguay seinen Entscheid, die vom Berner Konsulat ausgegebenen Pässe annullieren zu wollen, zurück, und ebenfalls viel zu spät, nämlich erst am 10. April 1944, setzte das "War Refugee Board" der Vereinigten Staaten ein Memorandum an die Schweiz für energische diplomatische Schritte gegenüber Deutschland zum Schutz der jüdischen Zivilinternierten durch. (Die Schweiz vertrat damals die diplomatischen Interessen der USA gegen-über Deutschland.) Als die Alliierten Vittel befreiten, konnten
sie gerade noch den Abtransport der letzten Zivilinternierten nach Deutschland
verhindern. Unter den Geretteten "befanden sich auch 14 Juden, deren Deportierung
die Gestapo im Juni 1944 befohlen hatte, die aber wegen ihres schlechten
Gesundheitszustandes in Vittel geblieben waren" (Bericht 16. 9. 44). Auch
einige, denen es gelungen war, sich zu verstecken, überlebten. Vier
Personen konnten aus den Deportationszügen flüchten. In den
bayrischen Zivilinternierungslagern Tittmoning und Liebenau blieben ebenfalls
einige verschont. Eine Gruppe von etwa 200 holländischen Juden mit
lateinamerikanischen Papieren, die nach Bergen-Belsen gekommen war, wurde
im Januar 1945 über die Schweiz gegen Deutsche in Übersee ausgetauscht. Immerhin hatte der Chef der Schweizerischen
Bundespolizei, Werner Balsiger, der selber in den Kriegsjahren auch mit
Geheimdienstaufgaben betraut war und enge Beziehungen zu den Alliierten
unterhielt, in einer Stellungnahme zu Julius Kühl vom 22. November
1945 zu Handen der Abteilung für Auswärtiges im EPD ausdrücklich
dessen Leistungen hervorgehoben. Hinsichtlich der Pässe und "Bürgerrechtsatteste"
von Paraguay und Honduras, die Kühl "vermittelt" hatte, sagte Balsiger:
"Nach Aussagen von Bezügern solcher Ausweispapiere gewährten
diese deren Trägern in den damals von Deutschland besetzten Ländern
den entsprechenden diplomatischen Schutz und bewahrten sie von den harten
Verfolgungen, Deportationen und Hinrichtungen" (Bundesarchiv, E 2001 [E];
1; Bd. 40). Julius Kühl, Mai 1941; Recha Sternbuch in den Kriegsjahren mit einer Gruppe geretteter Kinder (Beide Bilder: Joseph Friedenson/David Kranzler, Heroine of Rescue. The Incredible Story of Recha Sternbuch, 1969); Monsignore Philippe Bernardini, päpstlicher Nuntius (Bild: Ringier); Alexander Lados, polnischer Gesandter in Bern während des Krieges (Bild: Ringier); Dr. Georges Brunschvig, Rechtsanwalt in Bern (Foto: Kriegszeit; Familienbesitz). Einer der von der Polizei beschlagnahmten Bögen mit den aufgenähten Fotos von Menschen, die von der Deportation bedroht waren und um einen Pass nachsuchten (Schweizerisches Bundesarchiv, E 4320 (B); 1990/266; Bd. 237). |