24. April 1999, Magazin der Basler Zeitung (Nr. 16)  [Hier klicken für die Zeitungsausgabe des Textes]


«Der Verrat von Vittel»
Wie fiktive Pässe aus Übersee hätten vor der Deportation retten sollen
Von Peter Kamber

Letzte Rettungsmöglichkeit: Mit "irregulären", aber lebenserhaltenden süd- und mittelamerikanischen Pässen wehrte sich die polnische Gesandtschaft in Bern 1939 bis 1945 in einem dramatischen Kampf gegen die scheinbare Unausweichlichkeit des Holocausts. Im Wettlauf gegen den Tod begriffen die Schweizer und die amerikanischen Behörden zu spät, was mit den deutschen Zivilinterniertenlagern auf dem Spiel stand. Peter Kamber erzählt die Geschichte einer gescheiterten Rettung, die im französischen Kur- und Lagerort Vittel endete.


"Wie kann ich singen, da die Welt mir
wüste ward und öd
Wie kann ich spieln, seit mir die Händ
gebrochen sind
All meine Toten such ich, Gott!
auf jedem Müll wie blöd
In jedem Haufen Asche. Kinder,
sagt, wo ich euch find'."

(Jizchak Katzenelson, Grosser Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, I, 8, übers. von Wolf Biermann)


Es war zunächst noch Glück im Unglück, dass die Schweizerische Bundesanwaltschaft im richtigen Augenblick zuschlug. Agenten eines von der Abwehrstelle Wien aus gelenkten Spionagerings, auf die die Beamten der Bundespolizei seit längerem aufmerksam geworden waren, hatten nämlich ein paar wenige Tage vor der Anfang April 1943 erfolgten Verhaftung damit begonnen, das Netzwerk derjenigen jüdischen Hilfsorganisationen in der Schweiz zu infiltrieren, die einen kleinen, stets wachsenden Teil der von der Deportation bedrohten polnischen Juden auf dem Postweg oder über Kuriere mit einer neuen süd- oder mittelamerikanischen Staatsbürgerschaft versah, um sie so dem Zugriff der mörderischen Sondereinheiten zu entziehen. Diese geheime Flüchtlingshilfe war dem deutschen militärischen Geheimdienst (Abwehr) aber nicht verborgen geblieben.

Wer einen solchen Pass erhielt, wurde von den Deutschen in Zivilinterniertenlager eingewiesen, die dem Auswärtigen Amt unterstanden und vom Roten Kreuz betreut wurden. Das Deutsche Reich ging von der Hoffnung aus, diese Internierten eines Tages gegen Deutsche aus La-teinamerika, die in den Vereinigten Staaten festgehalten wurden, auszutauschen. Das wichtigste dieser Lager befand sich im Kurort Vittel (Frankreich). Ein Park mit Hotelgebäuden war von einem dreifachen Stacheldrahtzaun umgeben. Vom Warschauer Getto in diesen Schonraum auf Zeit war dank honduranischen Papieren auch der Schriftsteller Jizchak Katzenelson gelangt und verfasste dort von Oktober 1943 bis Januar 1944 in jiddischer Sprache den 1994 von Wolf Biermann übersetzten "Grossen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk", ehe er mit vielen anderen doch noch deportiert und in Auschwitz umgebracht wurde.

Es wimmelt von Spionen

Der reichsdeutsche Abwehragent Heinrich Löri legte sich für seinen Schweizer Spitzelauftrag eine täuschend echte Identität zu. Elia Rafischel Botschko, der Leiter der israelitischen Hochschule Quisiana in Montreux, hatte dem Unbekannten nach anfänglichem Erstaunen über den zusammen mit Passfotos, zwei Filmrollen und Namenslisten überbrachten Brief aus der Heimat um so eher Vertrauen entgegengebracht, als Löri sich als ein "Antinazi und Judenfreund" ausgab, der angeblich selbst schon Juden vor der Verfolgung durch die Nazis versteckt habe. Auch Botschkos herbeigerufener Schwiegersohn Saul Weingort, Rabbiner und Dozent an derselben Talmudhochschule, fiel auf die List des Agenten Löri herein, der, laut Weingort, "immer wieder einen furchtbar ängstlichen Eindruck machte", da "man hier in der Schweiz aufpassen müsse, weil man überall bespitzelt werde, es wimmle von deutschen Agenten", und auch behauptete, "froh" zu sein, "diese Sachen gut über die Grenze gebracht" zu haben. Löri, der sich als Herr Frank vorstellte, wurde auch den Flüchtlingshelfern Alfred Schwarzbaum in Lausanne und Chaim Israel Eiss in Zürich weiterempfohlen – nur den ersteren vermochte er allerdings noch zu treffen – und erhielt zusammen mit einer Reihe polnischer Kontaktadressen einige "Aufträge, die, wenn Löri nicht an der Ausführung durch die Verhaftung verhindert worden wäre, offenbar einem oder mehreren Israeliten in Polen den Kopf gekostet hätten", wie die Bundespolizei in einem Bericht festhielt (Bundesarchiv, E 4320 [B] 1987/187, Bd. 80; "Josef Miller und Consorten. Spionage für das III. Reich"; 29. 4. 1943).

Auf die Passaffäre aufmerksam geworden, beschlagnahmte die Polizei bei Chaim Israel Eiss, dem ostjüdischen Korsettmacher in Zürich, neun grosse Bögen, auf denen mit weissem Faden Fotos von Menschen aufgenäht waren, die in höchster Gefahr schwebten und um Ausweise baten. Ein weiterer Bogen war in der gegen Eiss verhängten Postkontrolle hängengeblieben. Vergebens warteten die auf den 264 Fotos abgebildeten über 300 Personen in Polen auf die erhofften Pässe, und Eiss verstarb noch im selben Jahr.

Verschlüsselte Telegramme

Bei der versuchten Rettung der Juden in Polen und im übrigen Europa mittels Pässen von Ländern aus Übersee spielte die polnische Gesandtschaft in Bern die Rolle einer Schaltzentrale. Neben dem Ersten Sekretär der Gesandtschaft, Stephan Ryniewicz, und dem Leiter der Konsularabteilung, Konstantin Rokicki, war als eigentlicher Planer der Aktionen Julius Kühl am aktivsten.

Kühl, der aus dem polnischen Sanok in Galizien stammte, war Halbwaise und kam als Junge in die Schweiz – an eine kleine jüdische religiöse Schule in Baden. Seine sehr gebildete Mutter blieb in Polen zurück. Kühl, der ursprünglich Rabbi werden wollte, erlangte an der Minerva-Schule in Zürich die Hochschulreife und studierte schliesslich an der Uni Bern Wirtschaftswissenschaften. Seine Dissertation über "Die schweizerisch-polnischen Handelsbeziehungen" (Bern 1939), die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erschien, wurde in der Presse ausführlich zur Kenntnis genommen. Die "Berner Zeitung" brachte am 14. November 1939 einen Auszug aus dem Buch auf der ersten Seite.

Bei seinen Besuchen auf der polnischen Gesandtschaft hatte Kühl einen so guten Eindruck hinterlassen, dass der frischgebackene Jurist sofort in den Dienst übernommen wurde. Er hatte sich zunächst um die polnischen Militär-Internierten zu kümmern, und da der polnische Gesandte Alexander Lados selbst nichtjüdisch war, wurde Julius Kühl für diesen schnell zur rechten Hand in allen Fragen, die jüdische Flüchtlinge betrafen. So fiel es Julius Kühl zu, in dieser furchtbaren Zeit durch Ausstellen und Organisieren von Ausweisschriften für die Verfolgten und durch die Übermittlung von Nachrichten über die Schoa, die aus Polen und anderen europäischen Ländern in die Schweiz gelangten, Leben zu retten und die Welt aufzurütteln. Von der polnischen Gesandtschaft aus, die als kontinentaleuropäische Relaisstation wirkte, gingen die Meldungen in die ganze Welt. Julius Kühl war zwar nur ein Glied in einer langen Kette von Funktionsträgern, wirkte aber dank seiner Festigkeit und inneren Überzeugung wie ein Anker.

Mit am Telegrafen sass bei der Übermittlung der Nachrichten über Flüchtlinge und über die Vernichtung der Juden Stanislaw Nahlik, der Chiffrierspezialist in der Polnischen Gesandtschaft. "Bis tief in die Nacht bedienten wir den Telegrafen", schrieb Julius Kühl 1988 in seinen nur für die Familie bestimmten Erinnerungen, "und wechselten alle paar Wochen die Codes, um mögliche feindliche Entzifferungsversuche zu vereiteln."

Die Stadt Bern bildete damals eine Art Auge des Hurrikans, überall anders tobte der Krieg, nur hier sassen die Vertreterinnen und Vertreter der verfeindeten Staaten in den Bars und an den Empfängen und Abendgesellschaften beieinander, um sich ihren Teil zu denken. Bern war entweder ganz Oberfläche oder ganz Untergrund, und beide Welten schienen sich kaum je zu berühren, höchstens in der Nacht, in den engen Gassen der Stadt und den einsamen verdunkelten Strassen entlang der wie Tinte unter den hohen Brücken durchfliessenden Aare.

Nahlik und Kühl übermittelten auch die berühmte, aber leider unerfüllt gebliebene Bitte des Rabbi Michoel Ber Weissmandl an die Alliierten, die Eisenbahnlinien, die zum Todeslager Auschwitz führten, zu bombardieren.

Ins Auge springen die Schwierigkeiten, die die Behörden Kühl, der Retter Unzähliger werden sollte, von Anfang an bereiteten. Fristen zur Ausreise waren ihm schon während der Ausbildung und dem Studium immer wieder gesetzt worden (E 2001 [E]; 1; Bd. 40), etwa eine zum 1. Mai 1940, die nur darum nicht wirksam wurde, weil Kühl in den Dienst der Polnischen Gesandtschaft übernommen wurde. Jahre später, als er längst in Nordamerika lebte, bekannte Julius Kühl der Journalistin Gisela Blau in einem Telefongespräch: "Ich träume heute noch von Dr. Rothmund" – dem Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement ("Blick", 19. 5. 1979).

Steine legten die Schweizer Behörden Julius Kühl allein schon dadurch in den Weg, dass sie sich weigerten – nach Aussagen eines Chefbeamten "aus rein politischen Gründen" (28. Mai 1941) – seinen diplomatischen Status anzuerkennen, der sich in der Abgabe einer sogenannten blauen Karte ausgedrückt hätte. Denn Polen war seit 1939 von Deutschland (und der Sowjetunion) besetzt und existierte ja als Staat gar nicht mehr. Aus Rücksicht auf deutsche Em-pfindlichkeiten erschien da die "Vermehrung des Personals dieser diplomatischen Mission" ganz allgemein als "unerwünscht". Obwohl Kühl im Oktober 1943 mit Yvonne Fernande Weill, der Sekretärin des in Flüchtlingsfragen äusserst engagierten Berner Anwalts und Freundes Dr. Georges Brunschvig, die Ehe einging und sie Kinder bekamen, wurde Kühls Aufenthalt in der Schweiz weiterhin nur "toleriert", und wiederholt wurde im Eidgenössischen Politischen Departement darüber diskutiert, ob nun "die Entlassung des Herrn Dr. Kühl aus dem Dienst der polnischen Gesandtschaft" verlangt werden solle oder nicht (10. Mai 1944).

Trotz seiner prekären Lage nahm Kühl nie ein Blatt vor den Mund. Da er am Morgen auf dem Weg in die Gesandtschaft oft dasselbe Tram benützte wie Bundesrat von Steiger, der Vorgesetzte von Heinrich Rothmund, dem Chef der Polizeiabteilung, soll er diesen gemäss Gisela Blau, die sich noch genau an dieses Detail aus dem damaligen Telefoninterview mit Kühl erinnert, gelegentlich mit ironischen Worten begrüsst haben, wenn das Tram ziemlich besetzt war: "Guten Morgen, Herr Bundesrat, heute ist das Boot wieder einmal sehr voll, nicht wahr" – was diesen jeweilen sehr verärgert haben soll.

Diplomatie im Sonntagsstaat

Als unverzichtbar erwies sich die Rückendeckung, die Julius Kühl von Monsignore Philippe Bernardini, dem päpstlichen Nuntius, erfuhr, dem Doyen des diplomatischen Korps in Bern. Kühl machte Monsignore Bernardini auch mit Recha Sternbuch bekannt, einer der wichtigsten Schweizer Flüchtlingshelferinnen, mit der er selbst bei vielen seiner Missionen im engsten Kontakt stand. Im Mai 1941 wurde sie, wie Jacques Picard in seinem Buch "Die Schweiz und die Juden" (Zürich 1994) schreibt, "unter Verdacht auf Schlepperdienste, Bestechung von Polizeibeamten" – so lautete das im offiziellen Jargon der Zeit – "sowie Beschaffung von kubanischen Visa in Untersuchungshaft gesetzt". Im Mai 1942 wurde sie "mangels Beweisen freigesprochen."

"Der Nuntius half oft mit Kurieren aus, wenn wir südamerikanische Pässe nach Polen schicken wollten", erinnerte sich Kühl in seinen Memoiren.

Selbst von der Sabbat-Ruhe, schrieb Kühl, wollte die streng orthodoxe Recha Sternbuch nichts wissen, wenn Menschenleben auf dem Spiel standen; auch aus der Feier der Bar Mitzwa ihres Sohnes lief sie weg, als das Telefon ging und ihre Hilfe nötig wurde, um die Abschiebung junger Männer zu verhindern, die bei einem verzweifelten Grenzübertritt festgenommen worden waren.

Um seine guten Beziehungen zum polnischen Gesandten Alexander Lados, der alle seine offenen und geheimen Hilfsanstrengungen für die Verfolgten deckte, einerseits und zum päpstlichen Nuntius Bernardini andererseits zu erhalten, widmete Julius Kühl seine Sonntage ganz dem Unterhaltungsbedürfnis von Lados und Nuntius Bernardini, indem er jeden Sonntagmorgen mit ersterem Schach und am Nachmittag mit letzterem Pingpong spielte. Nichts bietet einen direkteren Zugang zur Figur Julius Kühl als diese scheinbar harmlosen und doch so ernsten Spiele. Denn vielleicht bildete sich Julius Kühl nur ein, Schach spielen zu müssen und sich dabei jede erdenkliche Mühe zu geben, gegen Alexander Lados, seinen Chef, nicht zu gewinnen, denn dieser war ihm gut gewogen, und dabei sollte es bleiben, schon um die Freundschaft und die an ihr hängenden Rettungsmöglichkeiten für die Verfolgten nicht zu gefährden. Vielleicht war diese Rücksicht ganz unnötig und wäre der katholische Lados ein guter Verlierer gewesen. So wie der päpstliche Nuntius – die Einzelheiten verriet Kühl in diesem zweiten Fall zwar nicht. Aber Kühl, der in Polen den offenen Antisemitismus sozusagen als Normalfall kennengelernt hatte, traute diesem sonntäglichen Frieden vermutlich nicht, stand insgeheim vielleicht um so grössere Ängste aus, je freundlicher die Stimmung war. Denn es herrschte Krieg, und jeder Fehler konnte der letzte sein.

Diese Sonntage jedenfalls mitverdorben hatten auch die Schweizer Behörden, weil sie ihn nicht als ordentlichen Diplomaten akzeptierten. Nur deshalb war der allseits geschätzte Kühl auch so abhängig von Lados, dem polnischen Gesandten. Obwohl dieser kaum daran dachte, diese Macht auszunutzen, war das Machtgefälle doch real und konnte sich Kühl nicht gegen den Gedanken wehren, dass ihm von einem Tag auf den anderen der Boden unter den Füssen weggezogen würde. Denn wo das, was ein Recht darstellt, nicht fixiert ist, erscheint es leicht als blosse "Gunst".

Gewissensfragen

Die Ausweise besorgten sich Kühl, Rokicki und Ryniewicz in erster Linie beim Konsul von Paraguay, dem vornehmen Berner Rudolf Hügli. Dessen Zürcher Kollege, Generalkonsul Walter Meyer, begann aber schon 1942 Schwierigkeiten zu machen. Er verdächtigte Hügli pauschal der "Gewinnsucht".

Julius Kühl erklärte in einem Verhör vom 18. Januar 1943: "Die Passformulare wurden jeweilen bei Hügli abgeholt und dann von Konsul Rokicki ausgefüllt und nachher dem Konsul Hügli zur Unterschrift wieder zurückgebracht. Letzteres besorgte ich meistenteils. Für die Passausstellung bezahlten wird dem Hügli je nach Fall und Personenzahl Beträge von ca. Fr. 500.– bis Fr. 2000.–. Weder die Gesandtschaft, noch das Konsulat [von Paraguay], noch ich persönlich hatten bei der ganzen Aktion irgendwelchen Vorteil." Blosse Bescheinigungen erlangter Staatsbürgerschaft, die dann ausgestellt wurden, wenn die Bilder nicht eintrafen, waren günstiger und kosteten im Fall von Paraguay nur Fr. 100.–. Die Pässe liess Hügli an der paraguayischen Regierung vorbei, die bereits 1938 jede Visaerteilung an Juden verboten hatte, in einer Berner Druckerei heimlich nachdrucken.

Hügli war Jahrgang 1872 und hatte, wie aus Kreisen seiner Familie zu erfahren war, eine Zeitlang als Schweizer Diplomat in der amerikanischen Hauptstadt gewirkt. Er war einer der ersten gewesen, die in Bern Golf spielten, und gründete den Golfklub am Gurten sowie den Tennisclub Bellevue. Auch einen "Regenwetterclub" rief er ins Leben. Ausserdem organisierte er zusammen mit seiner Frau Fanny, die für ihre Stilsicherheit bekannt war und auch Bilder malte, im Hotel Schweizerhof renommierte Bälle. Zum grossen Bedauern blieb die Ehe kinderlos. Hüglis Eltern hätten jeden Tag in der Bibel gelesen und ihn sehr religiös erzogen.

Er sei bestürmt worden mit Gesuchen von Leuten, die von ihm als Konsul von Paraguay Hilfe erwarteten. Der Historiker Gaston Haas ("Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte...", Basel 1994) zitiert Rudolf Hügli mit den Worten: "Ich suchte anfänglich diesem Ansturm zu entgehen, indem ich mich für diese Leute unsichtbar machte. Ich verreiste sogar mehrmals, um Ruhe von [ihnen] zu haben."

Auch Pässe für Mittellose

Abraham Silberschein, ein polnischer Parlamentsabgeordneter und Delegierter des Jüdischen Weltkongresses, der im August 1939 am Zionistenkongress in Genf teilgenommen hatte und wegen des deutschen Überfalls auf Polen in der Schweiz steckenblieb – seinen ursprünglichen Vornamen Adolf legte er ab, später auch den zweiten, Alfred –, zeigte sich ebenfalls unermüdlich bei der Beschaffung von Pässen für die Bedrängten in seiner untergangenen Heimat. Um dem "Schwarzmarkt" für Pässe, der die Preise in die Höhe trieb, entgegenzutreten, stellte er die von ihm gegründete Genfer Hilfsorganisation Relico, die über Gelder aus den USA verfügte, in den Dienst des von der polnischen Gesandtschaft organisierten Vertriebs von Ausweisen: "So wurde verhindert, dass die Interessenten grosse Summen zu bezahlen hatten." Silberschein schoss selbst die Hälfte seines eigenen Vermögens zu: "Der Preis der Pässe setzte sich zusammen aus dem Kaufpreis, den Kosten für den Versand und einem freiwilligen Aufpreis, der erlaubte, eine gewisse Zahl von Pässen gratis zu liefern", erklärte er später im Verhör. (E 4320 [B] 1990/266, Bd. 192) Die Gesamtzahl der in der Schweiz ausgestellten Dokumente ging in die Tausende.

Vor allem der Einsatz von Kurieren war teuer. Neben Rudolf Hügli lieferten auch der Sekretär beim Generalkonsulat von El Salvador in Genf, Georges M. Mantello, und der Generalkonsul der Dominikanischen Republik, Alfons Bauer, der bis Mai 1941 noch Konsul von Honduras gewesen war, diese Gefälligkeitspässe; in geringerem Masse auch der Generalkonsul von Peru in Genf, Gaston Barreto. Eine Unvorsichtigkeit wurde letzterem im August 1943 zum Verhängnis. Der peruanische Gesandte Calderon, der einen von Barretos geheim ausgefertigten Pässe in die Hand bekam, enthob ihn seines Postens. Abraham Silberschein und Fanny Hirsch, seine Partnerin, die sich mit Hilfe von Nuntius Bernardini mutig für Barretos Verbleiben eingesetzt hatte, wurden in die Affäre hineingezogen und am 1. September 1943 von der Genfer Polizei verhaftet.

Misstrauen der Amerikaner

Unabhängig vom Sturz des peruanischen Konsuls und auch ganz losgelöst von den Ermittlungen der Bundespolizei im Spionageverfahren gegen Heinrich Löri und andere ("Miller und Consorten") wurde die kunstvoll aufgebaute Illusion einer breiten süd- und mittelamerikanischen Solidarität mit den Verfolgten Osteuropas 1943 in noch viel gefährlicherer Weise durch die zunehmenden Schwierigkeiten bedroht, in die Rudolf Hügli geriet. Als Konsul von Paraguay hatte er mit Abstand am meisten Ausweispapiere geliefert und konnte sich immer weniger gegen die Anfeindungen seines Zürcher Amtskollegen Meyer wehren. Es reichte diesem nicht, wenn Hügli sich mit den Worten rechtfertigte: "Ich gebe zu, dass jene Zeugnisse bei blosser Anwendung weltlicher Gesetze und des starren Buchstabens nicht einwandfrei sind. Dagegen kann ich es gegenüber den göttlichen Gesetzen und gegenüber meinem Gewissen verantworten, dass ich einigen Menschen das Leben gerettet und andere vor schrecklichem Elend, Qualen, Hunger usw. bewahrt habe" (24. 12. 1942). Zwar war ein im Januar 1943 von Meyer gegen Hügli angestrengtes Verfahren vor einem Berner Gericht wegen Fälschung von Ausweisen im Mai mangels Tatbestands wieder eingestellt worden – als Papiere waren sie ja echt, solange er im Amt war –, aber bereits im Februar 1943 hatte Walter Meyer offenbar ohne Gedanken an die schrecklichen Folgen bei der Regierung Paraguays in Asunción direkt die Absetzung Hüglis verlangt.

Wegen der paraguayischen Pässe war auch die amerikanische Gesandtschaft in Bern unruhig geworden. Nicht nur hatte sie, Silberschein zufolge, die polnische Legation ihre Unzufriedenheit wissen lassen, sondern sich auch schon "mehrmals vertraulich" im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement "erkundigt", wie Bundesrat Eduard von Steiger am 21. Juli 1943 seinen Kollegen vom Politischen Departement, Marcel Pilet-Golaz, informierte, weil sie die Befürchtung hege, "dass Herr Kon-sul Hügli, bewusst oder unbewusst, Agenten von Achsenstaaten paraguayische Ausweispapiere verschafft".

Anlass dafür war der Fall des einzigen reichsdeutschen und zudem nichtjüdischen Flüchtlings, Oskar Hörrle, dem Hügli im November 1942 einen paraguayischen Pass ausgestellt hatte und der am 19. Mai 1943 aus dem Interniertenlager Moudon geflohen und spurlos verschwunden war.

Durchkämmungsoperation

Als vermutlich direkte Folge von Generalkonsul Meyers Intervention in Asunción stellte die paraguayische Regierung der spanischen Gesandtschaft in Berlin, die im Reich die Interessen Paraguays vertrat, "die Liste der ihr bekannten schutzberechtigten paraguayischen Staatsangehörigen im deutschen Machtbereich" zu, "mit der Weisung", "sich sämtlicher anderer Träger paraguayischer Pässe nicht anzunehmen" (E 2001 (D), 3/484; schweizerischer Bericht 5.5.1944). Daraufhin trat am 12. Dezember 1943 eine deutsche Kontrollkommission in Funktion, welche in den Zivilinterniertenlagern nicht nur die als ungültig betrachteten paraguayischen Pässe einzog, sondern auch alle anderen Inhaberinnen und Inhaber lateinamerikanischer Pässe einer strengen Kontrolle unterzog. Im Frühling 1944 wurden die Betreffenden in "Sonderlager für Juden" deportiert (schweizerische Berichte vom 21.4.1944 und 4.8.1944). Die Gruppe von Zivilinternierten, zu der auch Jizchak Katzenelson mit seinen honduranischen Papieren gehörte, wurde am 18. April aus Vittel deportiert und kam, wie Wolf Biermann, Katzenel-sons Übersetzer, in Erfahrung bringen konnte, auf dem Umweg über Drancy bei Paris am 1. Mai 1944 in Auschwitz an.

Vittel und Compiègne wurden "ausgekämmt", wie der Schweizer Gesandte in Berlin, Frölicher, am 15. Mai 1944 Bundesrat Pilet-Golaz schrieb. Laut einer Liste, die den Amerikanern vorlag, waren 238 Menschen abgeholt worden. Die schweizerische diplomatische Vertretung in Paris konnte 163 Namen in Erfahrung bringen. Die Schutzmachtabteilung der Schweizer Gesandtschaft in Berlin hielt damals fest, sie hätte sich "auch in der Folge immer vergeblich bemüht, den Spuren dieser früheren Insassen des Lagers Vittel nachzugehen, aber diese Spuren wurden mit der Sorgfalt verwischt, die hier bei allen Judenmassnahmen angewendet wird". Es handle sich um "Massnahmen der Polizeibehörden, die übrigens auf allerhöchste Weisung hin erfolgen" (4. 8. 1944). Das alles geht aus im Bundesarchiv lagernden Quellen hervor (E 2001.02.11, Bd. 9).

Zu spät nahm Paraguay seinen Entscheid, die vom Berner Konsulat ausgegebenen Pässe annullieren zu wollen, zurück, und ebenfalls viel zu spät, nämlich erst am 10. April 1944, setzte das "War Refugee Board" der Vereinigten Staaten ein Memorandum an die Schweiz für energische diplomatische Schritte gegenüber Deutschland zum Schutz der jüdischen Zivilinternierten durch. (Die Schweiz vertrat damals die diplomatischen Interessen der USA gegen-über Deutschland.)

Als die Alliierten Vittel befreiten, konnten sie gerade noch den Abtransport der letzten Zivilinternierten nach Deutschland verhindern. Unter den Geretteten "befanden sich auch 14 Juden, deren Deportierung die Gestapo im Juni 1944 befohlen hatte, die aber wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes in Vittel geblieben waren" (Bericht 16. 9. 44). Auch einige, denen es gelungen war, sich zu verstecken, überlebten. Vier Personen konnten aus den Deportationszügen flüchten. In den bayrischen Zivilinternierungslagern Tittmoning und Liebenau blieben ebenfalls einige verschont. Eine Gruppe von etwa 200 holländischen Juden mit lateinamerikanischen Papieren, die nach Bergen-Belsen gekommen war, wurde im Januar 1945 über die Schweiz gegen Deutsche in Übersee ausgetauscht.

Sachlagen

Die Eidgenössische Fremdenpolizei setzte nach Bekanntwerden der Hügli-Affäre alle Hebel zur Entlassung von Julius Kühl aus dem Dienst der polnischen Gesandtschaft in Bewegung. Ein Zermürbungskrieg begann. Auf vehemente Interventionen des polnischen Gesandten Lados zu Gunsten Kühls beliess das Eidgenössische Politische Departement zwar dessen Anstellungsverhältnis im gleichen Zustand, händigte aber die Rationierungskarten an den Beschuldigten nicht mehr aus. Als endlich Minister Lados persönlich beim Departementschef vorsprach und an die Nachsicht von Pilet-Golaz zu Gunsten Kühls appellierte, willigte man "der Wohlgefälligkeit halber ein, auf den alten Status quo zurückzukommen", erwähnte jedoch, dass "diese wohlwollende Haltung" nur mit Rücksicht auf Minister Lados eingenommen werde.

Immerhin hatte der Chef der Schweizerischen Bundespolizei, Werner Balsiger, der selber in den Kriegsjahren auch mit Geheimdienstaufgaben betraut war und enge Beziehungen zu den Alliierten unterhielt, in einer Stellungnahme zu Julius Kühl vom 22. November 1945 zu Handen der Abteilung für Auswärtiges im EPD ausdrücklich dessen Leistungen hervorgehoben. Hinsichtlich der Pässe und "Bürgerrechtsatteste" von Paraguay und Honduras, die Kühl "vermittelt" hatte, sagte Balsiger: "Nach Aussagen von Bezügern solcher Ausweispapiere gewährten diese deren Trägern in den damals von Deutschland besetzten Ländern den entsprechenden diplomatischen Schutz und bewahrten sie von den harten Verfolgungen, Deportationen und Hinrichtungen" (Bundesarchiv, E 2001 [E]; 1; Bd. 40).

"Ich will nicht. Furcht und Schrecken.
Das Entsetzen macht mich wild/
Schon wieder Waggons. Grad
gestern abend weg, heut wieder hier/
So stehn sie auf dem Umschlagplatz,
siehst du ihr offnes Maul? Ein Bild/
Wie lauter aufgerissne Rachen. Dieser
Zug ist wie ein Tier."

(Jizchak Katzenelson, IV, 1)

Bilder im Originalartikel:

Diese Menschen gehörten zum Kern des Hilfsnetzes, das Bedrohten in ganz Europa mit lateinamerikanischen Pässen zu helfen versuchte:

Julius Kühl, Mai 1941;

Recha Sternbuch in den Kriegsjahren mit einer Gruppe geretteter Kinder (Beide Bilder: Joseph Friedenson/David Kranzler, Heroine of Rescue. The Incredible Story of Recha Sternbuch, 1969);

Monsignore Philippe Bernardini, päpstlicher Nuntius (Bild: Ringier);

Alexander Lados, polnischer Gesandter in Bern während des Krieges (Bild: Ringier);

Dr. Georges Brunschvig, Rechtsanwalt in Bern (Foto: Kriegszeit; Familienbesitz).

Einer der von der Polizei beschlagnahmten Bögen mit den aufgenähten Fotos von Menschen, die von der Deportation bedroht waren und um einen Pass nachsuchten (Schweizerisches Bundesarchiv, E 4320 (B); 1990/266; Bd. 237).