24. Oktober 1998, Magazin der Basler Zeitung (Nr. 41)  [Hier klicken für die Zeitungsausgabe des Textes]


«Man nannte uns Landesverräter, Hochverräter»
Wie J. M. das Versteck des Nationalbank-Goldes im Gotthard an die Nazis verriet
Von Peter Kamber

Tatsachenroman: Ausgehend von genauen Recherchen im Schweizerischen Bundesarchiv arbeitet Peter Kamber an einem historischen Roman über die Schweiz als Geheimdienstdrehscheibe im Zweiten Weltkrieg. Vorab breitet er hier das authentische Quellenmaterial für eine seiner Figuren aus, den Landesverräter J. M., der Nazi-Deutschland nicht nur die Geheimnisse des Réduits enthüllte, sondern nach seiner Flucht von Stuttgart aus auch ganz gewerbsmässig Spionage zum Nachteil der Schweiz betrieb. ­ Von Peter Kamber erschien soeben das Buch «Ach, die Schweiz ...»


J. M., «(…) gewesener Möbelzeichner, Munitionsarbeiter, früher in Altdorf-Schweiz, zuletzt SS-Offizier. (…) Signalement: ca. 178 cm gross, mittlere Statur (...). Besonderes Merkmal: Schussverletzung am Rücken.» Dies besagte der Steckbrief, mit dem der Schweizer J. M. im Oktober 1946 europaweit gesucht wurde. Sein Deckname in Deutschland lautete, ausgehend von seinen eigenen Initialen, auf Josef Mundinger. Zwar wurde J. M. in einem streng geheim geführten Strafverfahren am 29. Januar 1942 wegen Verletzung militärischer Geheimnisse in Abwesenheit zu fünf Jahren, am 29. September 1942 wegen verbotenen politischen und militärischen Nachrichtendienstes zu lebenslänglich und am 13. Oktober 1944 nach immer schwererer Beweislast zum Tode verurteilt. Am 6. Juni 1943 war ihm auch das Schweizer Bürgerrecht aberkannt worden ­ doch einer Strafe zuführen konnten ihn die Behörden nie. Denn nach dem Krieg ­ als im übrigen die Todesstrafe gegen den in so schwerwiegender Weise auf politische Abwege gekommenen jungen Mann nicht mehr vollzogen worden wäre ­ sollte er ihnen wieder entwischen. J. M., den nichts besser charakterisierte als sein unwahrscheinlich überzeugend klingendes Flunkern, Prahlen und Lügen, trickste die Bundespolizei aus ­ wie, wird noch genau zu zeigen sein ­ und blieb von da an wie vom Erdboden verschwunden. Als Held dürfte er sich dabei nicht vorgekommen sein, denn seine Gesundheit war angeschlagen, und er liess Kinder zurück ­ und eine Frau, die ihm bereits vorher nur widerwillig nach Nazideutschland gefolgt war und zuletzt ihm gegenüber «nur noch ein oberflächliches Erbarmen» verspürte, «weil er so tief gesunken ist».

Fakten für einen Roman

In einem historischen Roman über jenen Parallelkrieg, den sich die geheimen Nachrichtendienste 1939 bis 1945 auf dem Boden der Schweiz lieferten, dürfen grosse Namen nicht fehlen. Noch wichtiger aber für eine solche Geschichte sind Figuren kleineren Rangs, die das häufig mystifizierte Geheimdienstgeschäft auf den Boden des Nachvollziehbaren holen. Natürlich dürfen sie in einem historischen Tatsachenroman nicht einfach erfunden werden, und so gestaltet sich bereits die Recherche in den Archiven zu einem Abenteuer, bei dem sich aus Hunderten von möglichen Personen plötzlich einige wenige Gestalten herauslösen.

Das Hauptproblem mit historischen Romanen ist, dass sie die geschichtliche Wirklichkeit gleichzeitig widerspiegeln und brechen ­ und sei es nur durch die etwas zugespitzte Dramaturgie. Wo die Geschichtsschreibung selbst, die zwar auch kein pures Abbild des Vorgefallenen ist, immerhin die Quellenstellen als solche präsentiert und das Deutungsverfahren argumentativ so offen wie möglich führt, verhüllt der historische Roman oder das historische Theaterstück die Bedingungen seiner Entstehung ­ zu Gunsten der Unterhaltung und des reinen Erzählens. Das wirkt zwar spannend, bewirkt aber auch ein bestimmtes Unbehagen gegenüber dem Genre. Ich selbst ertappe mich bei historischen Romanen ständig bei der Frage, was denn jetzt «stimmt» und was erfunden ist. Um grösstmögliche Transparenz herzustellen, bleibt im Grunde kein anderer Ausweg, als parallel zur Erarbeitung des historischen Romans die wichtigsten Handlungsstränge auch historisch-journalistisch präzis aufzuarbeiten, damit nachprüfbar bleibt, worin sich Romanwirklichkeit und historische Wirklichkeit unterscheiden. Es sei also mit der Geschichte des Landesverräters J. M., der zwar in der Romanhandlung nur eine Nebengestalt sein wird, in diesem Sinne einmal ein Anfang gesetzt.

Der Schatz im Bauche des Gotthards

Im Reisehandbuch «Baedekers Schweiz», das 1937 in Leipzig erschien, stand unter dem Titel «Von Göschenen nach Andermatt» zu lesen: «Die Strasse steigt in der von jähen Granitwänden eingefassten Felsschlucht der Schöllenen über dem rechten Ufer der tosenden Reuss in Kehren hinan.» Über die Teufelsbrücke, «unter deren Granitbogen von 18 m Spannung die Reuss einen 30 m hohen Fall bildet», gehe es dann weiter zum Urner Loch, und jenseits dieses «1707 geschaffenen, später erweiterten, 64 m langen Felsdurchbruchs» beginne das «von der Reuss durchströmte Urserental (‹Tal der Bärenjäger›), von hohen, zum Teil schneebedeckten Bergen umgeben».

Genau dort, bei den militärischen Befestigungen am Gotthard zwischen Teufelsbrücke, Urner Loch und dieser Hochebene ­ welche Luftlandetruppen direkt anzuziehen schien ­, hätte im Zweiten Weltkrieg die Schweiz verteidigt werden sollen. Die Landesregierung gedachte bekanntlich, sich ebenfalls ins Reusstal zurückzuziehen, etwas weiter unten, zwischen Altdorf und Göschenen ­ in eine bombensichere Kaverne bei Amsteg ­, während der auf Mobilität bedachte General von einem Eisenbahnwagen in einer der vielen Tunnelkehren der Gotthardstrecke aus die Truppen befehligt hätte.

J. M. war 20 Jahre alt, als er 1936 als Festungswächter im Gotthard eine Anstellung fand. In der Freizeit ging er mit Freunden klettern. Da wurde, wie sich einer von ihnen, P. U., später gegenüber den Untersuchungsbehörden erinnerte, «über den Betrieb geflucht», in Andermatt, «und zwar ohne Unterschiede des Grades». Politisiert aber habe J. M., der Unteroffizier war und mit seiner kurz vor der Abschlussprüfung abgebrochenen Schreinerlehre in der damaligen Zeit ohne Karrierechancen schien, nicht. J. M. war ungewöhnlich intelligent, stammte aber, wie es damals hiess, aus einer «Trinkerfamilie», die von den Behörden auseinandergerissen wurde. «Schon in der Bezirksschule machte er dumme Streiche», rapportierte J. M.s Heimatgemeinde 1943 der Militärjustiz: «So unternahm er einmal als Erstklässler auf eigene Faust eine Reise in die Innerschweiz. Oft musste der Pflegeplatz gewechselt werden. Schliesslich wurde er aus der Lehre entlassen, weil er sich absolut nicht unterordnen und einfügen wollte. (...) Er versuchte es in verschiedenen Berufen. Immer lief er innert kürzester Frist weg.» Wenn Weglaufen nicht ging, soll er sich krank gestellt haben. Darüber schien sich der Gemeindeschreiber besonders aufzuregen: «Diesen Krankheitstrick wendete er übrigens je und je an.»

Erst in Andermatt fing der junge J. M. sich wieder. M. O., ein ehemaliger Freund aus jenen Tagen, hielt ihn damals ­ «absolut» ­ für einen «aufrichtigen Menschen»: «Ich hätte M. alles anvertraut», sagte er, und ­ auf J. M.s plötzliche Nazi-Überzeugungen anspielend ­ er hätte «nicht für möglich gehalten, dass M. auf dieser Seite mitmachen würde»; «aber wir haben viel über die unbefriedigenden Lohnverhältnisse gesprochen». Ende 1938 verlor J. M. die Stelle als Festungswächter, hatte aber Zeit genug gehabt mitzuerleben, wo genau hinter dieser riesigen Felswand, die sich vom Tunnelausgang der Schöllenenbahn bis zur Kaserne dehnt, die Schweizerische Nationalbank in demselben Jahr einen Teil ihres Goldes einlagern liess.

Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen J. M. bestätigte die Generalstabsabteilung der Schweizer Armee am 29. November 1946 gegenüber dem Untersuchungsrichter in einem französisch geschriebenen Brief die Existenz dieses besonderen Stollens im Gotthardmassiv: «Es ist zutreffend, dass eine Goldreserve der Nationalbank in einem unterirdischen Gewölbe (‹magasin souterrain›) an einem Ort namens ‹Grübeli›, der mit dem Fort Bühl zusammenhängt und mit ihm verbunden ist, deponiert worden ist. Dieses Depot wurde im Laufe des Frühlings 1938 bezogen (...).»

Radikale Schweizer Nazi-Organisation

Als einfacher Arbeiter wechselte J. M., der kein Urner war, nach seiner Entlassung zur Eidgenössischen Munitionsfabrik Altdorf (MFA) über. 1940 heiratete er. Julia, seine Frau, arbeitete als Sekretärin in der MFA. Ebenfalls 1940 trat er in Altdorf der frontistischen Ortsgruppe der Eidgenössischen Sammlung (E.S.) bei, die ihren Mitgliedern in verschlossenem Umschlag die Zeitung «Front» zukommen liess. Auch J. M. verteilte in der Folge im Werkareal Propagandaschriften.

Die Altdorfer Gruppe unterhielt enge Beziehungen zu Zürich und fuhr gelegentlich auch im Car zu Grossversammlungen dahin. In Zürich, Ecke Lagerstrasse/Reitergasse, fanden sich die radikalen Gleichgesinnten in kleinerem Kreise im Hotel-Restaurant Speer und beschlossen 1941 unter dem Einfluss eines vom Deutschen Generalkonsulat in Zürich gesteuerten Mannes namens Staiger, den sie da kennenlernten, die frontistische E.S. reiche nicht, sie wollten «ein wenig extremer arbeiten» und sich «auf rein nationalsozialistischen Boden stellen».

Staiger hatte etwa 300 Leute unter sich, alle in Zellen von fünf bis sechs Personen. Er tat gemäss allen Zeugenaussagen sehr geheimnisvoll. «Staiger sagte immer, er erwarte Weisungen», erinnert sich der Zürcher J. B., und ab und zu wurden in Wäldern Übungen durchgeführt, «mit Takt und Schneid, alles nach deutschem Muster». Laut Aussage von E. H. erklärte Staiger, der als Deutscher den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte und arbeitsloser Schreinermeister war, «seine Bewegung habe mit der Front nichts zu tun, das sei ‹rein pur› Adolf Hitler, sie hätten auch ihre Leute bei der Polizei und wenn eine Razzia bevorstehe, so würden sie vorher informiert».

Ein erster Zwischenfall ereignete sich in Altdorf selbst am 1. April 1941 auf dem Bahnhof, als die Geheimgruppe morgens um acht einen der Ihren, H. I., der mit anderen Militärpersonen in Uniform nach Göschenen einrückte, zum Zug begleitete. Beim Einsteigen passierte es: «Als Gruss erhoben nun er und die Zivilisten die rechte Hand zum deutschen Gruss und es erscholl im Chor nun einstimmig ‹Heil Hitler›.»

Frau Rosa Marty-Weber, die mit ihrem ebenfalls einrückenden Mann, der in der Folge dem Territorialkommando Anzeige erstattete, dabeistand, fasste sich ein Herz und griff ein: «Meine Frau erregte sich derart, dass sie sich der Gruppe zuwandte und ihnen zurief: ‹Saupack›. Auf diesen Anruf reagierten die Betroffenen jedoch nicht. Ich muss hier beifügen, dass es sonst nicht in der Natur meiner Frau liegt, andere Leute zu beschimpfen oder sich in fremde Angelegenheiten zu mischen. Sie erregte sich speziell aus dem Grunde, weil sich von den vielen anwesenden Männern keiner getraute, sich ins Mittel zu legen.»

Ihre Stammkneipe hatte die Altdorfer Nazigruppierung in Attinghausen, in einem Hotel-Restaurant, das den Eltern des genannten H. I. gehörte, direkt unter der zerfallenen Burg der alten Freiherren von Attinghausen, nur ein paar Minuten vom Fabrikeingang der Munitionsfabrik entfernt, die jenseits der Reuss auf Altdorfer Boden lag. In diesem Gasthof lagen die Nazi-Illustrierte «Signal» und die «Front» auf, und in manchen Gästezimmern hingen nach Aussagen einer verhörten ehemaligen Serviererin Bildnisse Adolf Hitlers. H.I.s Mutter, die Wirtin, die der Kantonspolizei Uri zufolge 1934 «anlässlich eines kleinen Schützenanlasses in Attinghausen» beim Restaurant «die Hitlerfahne» hisste, pflegte die Anwesenden gemäss einer Aktennotiz des Polizeidienstes der Bundesanwaltschaft vom 24. Juni 1941 bei speziellen Gelegenheiten auf dem Klavier zu deutschen Kriegsliedern zu begleiten, während der Vater H.I.s sich nach Aussagen eines Zeugen «ruhig verhält und unter diesen Zuständen eher zu leiden scheint».

Solche von Staiger straff geführten Zellen gab es nicht nur in Altdorf, sondern in den verschiedensten Schweizer Städten, allein «auf dem Gebiet der Stadt Zürich sechs», wie die Bundespolizei wusste. Der eigentliche Mann hinter dieser Nazi-Organisation ­ derjenige, der «die Sache in den Händen habe», wie Staiger sich ausdrückte ­ war aber Dr. Wilhelm Gröbl, ein junger aus Österreich stammender «Reichsdeutscher», der formell dem Deutschen Generalkonsulat in Zürich unterstand und sich dort auch immer wieder blicken liess, im übrigen aber als «Sonderbevollmächtigter» keine andere Aufgabe hatte, als in der Schweiz für den möglichen Anschluss vorzusorgen. Dieses Bild ergaben die Protokolle eines Lauschangriffs der Zürcher Politischen Polizei auf Dr. Gröbl im Appartementhaus am Seefeldquai 1 in eindeutiger Weise. «Meine Wohnung ist nicht überwacht, das Telephon schon», meinte Dr. Gröbl, sich in falscher Sicherheit wiegend, am 9. Mai 1941 zu einem unbekannten Besucher und fuhr fort: «Wir haben jetzt hier 300 Leute, vollkommen unbeschränkt [uneingeschränkt] vertreten [sie] den Grossdeutschen Standpunkt. Verschiedene Ortsgruppen (...). Bereit, alles zu machen, legale und illegale Arbeit auf Mord und Brand.» Polizeilichen Hinweisen nach zu schliessen, war die Gruppe nicht nur in den Besitz von Angaben gelangt, «wo in der Stadt Zürich Waffen und Munition untergebracht sind», sondern auch, «wo die Telephonkabel gelegt sind». So seien «bestimmte Schächte bezeichnet, in denen der gesamte Telephonverkehr der Stadt gestört werden könnte».

Ein verdeckter Ermittler der Zürcher Polizei ging überdies im «Speer» unerkannt ein und aus. Er notierte am 5. Mai 1941: «Staiger verhielt sich am Tische sehr ruhig und musterte alle Anwesenden mit misstrauischen Blicken. Er trug eine braune Lederjacke und blaue Überhosen.» Besonders auffällig war, dass sich die Mitglieder der radikalen Gruppe mit einer Stecknadel in der Kleidung gegenseitig kenntlich machten. Jede Untergruppe hatte einen Stecknadelknopf in anderer Farbe, und jene der Unterführer war weiss. Als K. B., ein Nichtdazugehöriger, der aber mal bei der seit November 1940 verbotenen frontistischen NBS (Nationale Bewegung der Schweiz) gewesen war, eine ironische Bemerkung machte ­ «ich werde jetzt wohl noch die andern suchen müssen, die zu dieser Gruppe gehören» ­, wurde das als Beleidigung aufgefasst und mit einer unverhohlenen Drohung Staigers quittiert. Der «Stecknadelverein», wie der verdeckte Ermittler ihn nannte, merkte zwar die Verfänglichkeit dieser Abzeichenmanie noch rechtzeitig ­ und schaffte sie wieder ab.

Aber die Gruppe ging Anfang Juni 1941 dennoch hoch, und zwar wegen eines 7,5 cm Flab (Fliegerabwehr)-Zeitzünders, den einer der Ortsgruppe Altdorf auf Geheiss Staigers ­ «er müsse einfach diesen Zünder haben und fertig, es handle sich um einen Befehl» ­ in der Munitionsfabrik entwendet und Staiger übergeben hatte. Staiger wurde verhaftet und in der Folge zu 12 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung verurteilt. Die Verteidigung hatte sich bemüht darzulegen, dass eine Geheimnisverletzung schon allein deshalb nicht vorliege, da Deutschland seit November 1940 bei der Genfer Spezialfirma Tavaro S.A. den fraglichen Zünder massenhaft ganz offiziell einkaufe und im Gebäude der betreffenden Firma auch eine deutsche Überwachungsstelle unterhalte. Die viel naheliegendere Frage, warum denn Deutschland so viel daran setze, sich heimlich einen Zünder zu beschaffen, den es doch ohne Umstände auf dem offenen Markt erwerben konnte, beantwortete Staiger selbst während des Prozesses im Januar 1942 auf verblüffend einleuchtende Weise: «Wir haben (...) eine Organisation, die unnütze Schiebereien verhindern soll. Im Auftrag dieser Organisation sollte ein Serienfabrikat beschafft werden zu Kontrollzwecken. Nur ein heimlich entwendetes Produkt konnte Gewähr bieten. Es sind eben auch schon Bestellungen schlecht geliefert worden. (...) Es handelte sich (...) um die Frage der Qualität der schweizerischen Serienfabrikation (...).» Tatsächlich musste den Deutschen aufgefallen sein, dass die ihnen gelieferten Zeitzünder ­ wie die Tavaro S.A. in einem Schreiben vom 6. August 1941 an den Untersuchungsrichter betonte ­ «in der äusseren Formgebung und im Gewicht erheblich» abwichen von dem für die schweizerische Produktion in Altdorf verwendeten, doch wie diese deutschen Stellen unter Opferung Staigers und der ganzen Altdorfer Nazigruppe schliesslich selber herausgefunden haben dürften, besassen sie «dasselbe Zeitzünderuhrwerk, das den wichtigsten Bestandteil eines mechanischen Zeitzünders darstellt.» Es herrschte spürbar Krieg.

Dr. Gröbl selbst, der den unverzeihlichen Agentenfehler beging, eine auffällige, laute und plumpe politische Organisation mit einem hochsensiblen Industriespionagering verhängen zu wollen (oder hatte Staiger auf eigene Faust gehandelt?), musste nach einem diplomatischen Zwischenspiel, das einige Monate dauerte, die Schweiz verlassen und galt auch in Berner Nazi-Gesandtschaftskreisen von da an als «liquidiert». Dabei hatte er die Schweizer Hitzköpfe, die den Nazi-Einmarsch zum Sommer 1941 erwarteten, doch eher zu bremsen versucht. Von Berlin war sowieso fassungslos mit angesehen worden, wie sich die Schweizer Fröntler nur noch gegenseitig befehdeten und zu keinerlei gemeinsamen Führung mehr imstande waren.

Am 5. Mai 1941 hatte Dr. Gröbl den Lauschprotokollen zufolge einem Besucher erklärt: «Der Führer [Adolf Hitler] wünscht die ‹Schweizer Führer› nicht! Wollte jeder der Mann sein!!! Das Reich hat momentan in der Schweiz nur wirtschaftliche Interessen. Wir brauchen von hier aus eben verschiedenes!!!» Am 9. Mai hatte er in einer weiteren mitgeschnittenen Unterhaltung den Schweizer Fröntler-Führern abermals vorgeworfen, «keine Autorität» zu haben: «Dann soll die Sache mit der SS gemacht werden. Die politische Bewegung wird hier nie Erfolg haben (...).» Der Zeitpunkt dafür war aber noch nicht da: «Plötzlich erklärt der Führer, wir wollen die Wirtschaft nicht stören, es sind da dringliche Bestellungen, Luftwaffenaufträge und dergleichen.» Als neue Devise galt: «Wir müssen das Ganze zurückstellen und nur wirtschaftliche Möglichkeiten herausholen.»

«Er war eben ein Nazi»

J. M. hatte seine Stelle in der Munitionsfabrik wegen handgreiflicher Streitigkeiten mit einem Arbeitskollegen, den er beim Auswaschen von Artillerie-Geschosshülsen aus Langeweile und öder Rivalisiererei immer wieder mit Seifenwasser bespritzte, schon vor der Zünder-Affäre im März 1941 verloren und sich, als nach einer in Gegenwart seiner Frau Julia durchgeführten Hausdurchsuchung die Luft allmählich «dick» wurde, im April von Staiger über die Grenze nach Deutschland bringen lassen. Staiger führte J. M. bei der Gestapo in Waldshut ein, die ihn darauf in einem feinen Hotel unterbrachte. Nach den ersten Befragungen wurde gleich ein Mann namens Malzacher, ein Spezialist der deutschen militärischen Abwehr, herbeigerufen. J. M. gab in einem späteren Verhör am 6. August 1946 zu Protokoll: «Im ‹Rheinischen Hof› befand sich ein Büro mit Zeichnungstisch und allen erforderlichen Utensilien zum Anfertigen von Skizzen und Plänen, und ich habe dort während meines dreiwöchigen Aufenthalts (...) verschiedene Skizz-en angefertigt.» Es handelte sich um «Ansichten» mit genauer Angabe des Standorts und der «Ausmasse»: «Ich möchte erwähnen, dass Malzacher mir fast um den Hals gefallen war, als ich ihm diese Skizzen vom Gotthardgebiet erstellt hatte, denn er, bzw. der deutsche Nachrichtendienst, war damals noch sehr wenig über dieses Festungsgebiet orientiert (...).» Drei Wochen später kam J. M. nach Stuttgart, durfte seine Frau und sein Kind nachreisen lassen und wurde fast fürstlich im Hotel Marquardt einquartiert. Dem Schweizerischen Konsulat in Stuttgart, das ihm ein Schreiben des Untersuchungsrichters übermittelte, antwortete J. M., der sich seinen plötzlichen Ruhm, so schal dieser bei Lichte besehen auch war, nicht einfach wieder aberkennen lassen wollte, in einem ausfälligen und auch antisemitischen Brief, und er schloss: «Mit deutschem Gruss: Heil Hitler!»

Unter den vielen SD- und Abwehrdokumenten, welche die Franzosen bei Kriegsende in Stuttgart vorfanden und der Schweiz übermittelten, befand sich auch ein undatierter Bericht J. M.s «über die bisher abgelieferten Arbeiten und weitere Ausbaumöglichkeiten». Unter «Sechstens» stand da: «2 Photos vergrössert von der Schöllenen mit präzisen Schusslinien und Sprengstollen eingezeichnet mit Legenden vervollständigt.» Und weiter: «Auch werden wir über alle Geheimstollen, Gasschutz, Telephoneinrichtungen und Verkehr genaue Pläne ausarbeiten (...) und die Hauptsache an der ganzen Arbeit ist im St. Gotthard: die sogenannten ‹toten Punkte› [Winkel], die nicht beschossen werden können (…). Über die neuerbauten Goldmagazine und ihre automatischen Funktionen kann ich genauen Aufschluss geben und hatte dazumal im Herbst 1938 alles genau studiert nach Plänen und ich kann Befehle erteilen, dass keine Sprengung in der Schöllenen klappt. Auf meinen Patrouillen-Gängen habe ich alles ganz genau studiert (...) und beim Chef vom Festungsbüro (...) etliche Male sämtliche Pläne für geheime Generalstabsbefehle eingesehen.»

Mit seinen Kenntnissen machte J. M. schnelles Geld. Das war ein Gewerbe, und um sich unentbehrlich zu machen, diente er sich auch dem SD (Sicherheitsdienst) an, dem Nachrichtendienst der SS. In dessen Auftrag befragte er zusammen mit einem anderen jungen Landsmann, der Maschine schreiben konnte, die Schweizer Ausreisser und Schwarzgänger, die zentral in Stuttgart im sog. Panoramaheim zusammengefasst wurden, nach ihren geheimen militärischen Beobachtungen. «Das Panoramaheim war ja eine Sammelstelle von Kanonenfutter, d. h. eine Anwerbungsstelle für die Waffen-SS», würde J. M. dem Inspektor E. von der Bundespolizei nach dem Krieg in einem Verhör anvertrauen. Auch dort, im Panoramaheim, verfügte J. M. über die Möglichkeit, Skizzen und Pläne zu verfertigen. Einer der Schwarzgänger, J. R., berichtete später: «Ich kam einmal auf sein Zimmer, als er die Konturen des Vierwaldstättersees zeichnete, d. h. den Umriss und die verschiedenen Landungsmöglichkeiten.» Das war J. M.s Lieblingsdrehbuch. In einem «Wochenbericht» von 1941 stand: «Freitag, den 7. November, Bericht abgefasst über: Luftlandetruppen zur Besitznahme der Eidg. Munitionsfabrik (...) [und] der Munitionsmagazine Rynächt an der Gotthardlinie.»

Im Auftrag der Gestapo machte er sich gleichzeitig an das Schweizer Konsulat in Stuttgart heran ­ mit schlimmen Konsequenzen für zwei der dort beschäftigten Beamten. Der eine, «R.», verbrachte vom März 1942 an neun Monate in Haft, der andere, G. B., erkrankte in der Zelle so schwer, dass er etwas früher freikam.

Glücklicherweise war Konsulatssekretär R. bei seinen wichtigen inoffiziellen Erkundungen über die Truppenbelegung des süddeutschen Raumes, die er jeweils mündlich direkt in die Schweiz übermittelte, derart vorsichtig vorgegangen, dass ihm J. M.s aufgebauschte Fantasieberichte praktisch nichts anhaben konnten. Das war aber dem Chef des Schweizer Nachrichtendienstes Roger Masson, der damals schon das Schlimmste befürchtet hatte, nicht klar gewesen. Nur deshalb und um möglichem politischem Schaden zuvorzukommen, liess sich Masson in der Folge auf die ­ in der Forschung gut bekannten ­ verfänglichen Gespräche mit dem sehr hoch pokernden SD-Chef Walter Schellenberg ein, in die schliesslich selbst General Guisan einbezogen wurde. Plötzlich fügten sich hohe Politik und Verrätereien kleiner Figuren zu einer einzigen Geschichte zusammen. R. kam erst am 23. Dezember 1942 frei.

Der für Spionageabwehr zuständige Gestapo-Beamte in Stuttgart, der J. M.s Einsätze leitete, erklärte nach dem Krieg in einer Einvernahme durch die Schweizerische Bundespolizei beinahe entschuldigend: «J. M. war für alle möglichen Dienststellen tätig. Er wurde als Schmutzfink taxiert, weil er aber doch immer wieder verwendbare Sachen brachte, bediente man sich seiner.»

Lügen und noch mehr Lügen

J. M. war zwischenzeitlich von der Abwehr nach Mülhausen in eine 7-Zimmer-Wohnung transferiert worden, von wo aus er laut einem hochrangigen Abwehroffizier «einen ganzen Schwarm von Agenten in der Schweiz» befehligte. Wie viele davon allerdings operativ waren und welche J. M. nur fingierte, war eine Frage, die sich auch die deutschen Nachrichtendienste immer eindringlicher gestellt haben mussten. Pfingsten 1943 war Schluss. J. M., das Früchtchen, trat der Waffen-SS bei und rückte in Bad Tölz zum «II. Germanischen Offizierslehrgang» ein. Anschliessend kam er an die finnisch-sowjetische Front, wo er auf Langlaufski mit sieben Finnen Heldentaten begangen und «weit hinter» der russischen Front «dann auch öfters die Murmanskbahn zu sprengen» vermocht haben wollte. Als «Chef eines Stosstrupps» sei er dann «schwer verwundet und im Flugzeug heim in’s Reich befördert» worden. Darauf habe er die Ernennung zum Ersten Inspektionschef der SS-Hochgebirgsschule in Neustift/Tirol erhalten.

Nach Kriegsende scheiterte J. M.s ohne Zweifel sicher sehr beredter Versuch, sich vom bekanntermassen ziemlich wahllos vorgehenden amerikanischen Geheimdienst anwerben zu lassen, nur daran, dass ihn die österreichische Widerstandsbewegung vorher verhaftete. Die SS-Uniform hatte er zwar längst «weggeschmissen», wie seine Frau erklärte, aber erkannt worden war er trotzdem. Nach vier Wochen kam er, wie er selbst sagte, in ein amerikanisches «Sonderlager für politisch Verdächtige». Da liess er sich ­ sein alter Trick? ­ ins Lazarett einweisen und schaffte im Juli die Flucht mit den entwendeten Papieren eines unbelasteten deutschen Mitpatienten. Bei einem Bauern kam er unter, wurde dann aber im März 1946 von der «Deutschen Landespolizei» in Stuttgart arretiert. Im Juli 1946 lieferten ihn die Amerikaner schliesslich der Schweiz aus.

Wie er es schaffte, der Bundespolizei mitten in langen Geständnissen über vergangene Lügen eine weitere Lüge aufzutischen und derart glaubhaft zu versichern, er habe im Tirol Duplikate von all seinen Plänen und Geheimberichten versteckt, die er den Behörden in der Hoffnung auf eine Strafmilderung gerne übergeben würde, ist ein Kabinettstückchen, das der seit der Antike laufenden methodologischen Debatte, woran zu merken ist, ob ein Lügner die Wahrheit sagt oder nicht, wenn schon keine Lösung bringt, so doch zumindest ein weiteres Fallbeispiel beschert. Wohl nur vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe von 1945 ist verständlich, warum in der Bundesanwaltschaft und im Oberauditorat keine Alarmlämpchen aufleuchteten, als J. M. behauptete, er werde den Beamten in einem Stollen eines Bergwerkes, «in einer Zinkkiste verpackt», noch etwas zeigen: nämlich «von der SS beschlagnahmte Dokumente bei Reichsminister Speer über Atomergebnisse und deren Versuche und Anwendung». Inspektor E. von der Bundespolizei erwähnte, J. M. habe «auch Goldbarren» ins Spiel gebracht…

So fuhren denn zwei Bundespolizisten mit ihm ins Tirol, ein französischer Offizier begleitete sie vor Ort mit einem Jeep, als am Morgen des dritten Tages nach selbstredend bislang ergebnisloser Suche J. M. bei Tagwacht um 5 Uhr 15 so was wie Durchfall, der noch mit seiner Schussverletzung zusammenhänge, vortäuschte, dem noch nicht «fertig» angezogenen Inspektor E. enteilte und ­ nie mehr gesehen ward.

 

Bilder im Originalartikel:

Armeeaufnahme aus dem Zweiten Weltkrieg: Eidgenössische Munitionsfabrik in Altdorf (MFA).

Im Säuretrog wurden die Hülsen der Artilleriegranaten gespült, dann mit Seifenwasser ausgewaschen. Diese Arbeit verrichtete vor der Entlassung auch J. M.

Unter den ca. 2000 Beschäftigten der MFA bereitete sich eine kleine, radikale nationalsozialistische Gruppe auf den «Anschluss» vor. 1941 wurde sie ausgehoben. (Bilder: Schweiz. Bundesarchiv, E 5792; 1988/4)

Gotthardfestung in den zwanziger Jahren mit der alten Teufelsbrücke und dem Viadukt der Schöllenenbahn; rechts oben die Militärstrasse auf den Bätzberg. J. M. als ehemaliger Festungswächter verriet nicht nur den Eingang zum Goldlager der Nationalbank, sondern glaubte auch sicherzustellen, dass keine der vorgesehenen Sprengungen klappte. Hier zwischen der Schöllenenschlucht und Andermatt wäre es zur Schlacht um die Schweiz gekommen. (Bild: Staatsarchiv Uri, Postkartensammlung)