"Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des Schmerzes!"
(Vladimir Nabokov, Pnin, 1953)

 


 

"A play is a very exact set of rules. And yet the playing is a complete circulation around these rules."

(Peter Brook, International Herald Tribune, 9./10. März 1996) 

 


 

 

 

 

Leidenberg, Nicolas

 

 

Erzählung

Peter Kamber

 

 

In Erinnerung an Niklaus Meienberg (1940-1993), der nicht mit Leidenberg, Nicolas identisch ist.

 


LEIDENBERG, NICOLAS
Szenisch-musikalische Lesung in 9 Bildern

Eine sogar theater-Produktion / Peter Brunner (Josefstr. 106, 8005 Zürich)

Premiere am 24. Oktober 2001

Weitere Aufführungen: Freitag/Samstag 26./27. Oktober 2001 abends; Sonntag 28. Oktober als Matinée; Donnerstag bis Samstag 1. - 3. November 2001 abends (Kartenverkauf: Tel. 01/271 50 71)

Mit Otto Edelmann und Christian Kuntner
Zugbegleiterin: Irina Schönen
Endregie: Helmut Vogel

 

Otto Edelmann
Schauspielschule Prof. Krauss, Studium Hochschule für darstellende Kunst und Max Reinhardt-Seminar.
Engagements im gesamten deutschsprachigen Raum, u.a. Berlin, Marburg, Zürich, Basel, Graz, Stuttgart und Klagenfurt.
Arbeiten mit Regisseuren wie Peter Zadek, George Tabori und Hans Hollmann u.a. Funk-, Film- und Fernsehauftritte.
Otto Edelmann war in der Rolle des Dr. Pereira im gleichnamigen Stück von Antonio Tabucchi im sogar theater zu sehen.


Christian Kuntner
Ausbildung Swiss Jazz School Bern. Instrumente: Kontrabass, Elekrobass, modifiziertes Cello, modifizierte Posaune diverse Ethno-und Schrottinstrumente, electronics, Sequencer
Elektronische und Computermusik, multimediale Projekte, diverse CDs. Mitglied des Zirkus-Theaters Federlos, daneben Musik- und Theaterprojekte u.a. in Schweiz, Deutschland, Österreich, Niederlande, Polen, Finnland, Ägypten, Afrika.


Helmut Vogel
Ausbildung in Wien und Paris. Engagements als Schauspieler und Pianist in Österreich, Deutschland, USA, Schweiz (Theater am Neumarkt und Vaudeville Theater). Verschiedene Regiearbeiten im In- und Ausland. Regelmässige Auftritte im sogar theater.


Wir danken der Sophie und Karl Binding-Stiftung und der Stadt Opfikon für ihre Unterstützung, der Schreinerei 5 | Christian Bühler für den runden Laufsteg, Peter Kamber für die Überlassung seines Textes, Bernhard Fuchs für die Fotos, Michael Wernli für die Tonaufnahme und Irina Schönen für die angenehme Zugbegleitung und Ihnen verehrtes Publikum für Ihren geschätzten Besuch.

 

 

 


Die Erzählung entstand 1993/94 zunächst als Theaterstück. Es wurde 1996 am Berner Theaterfestival vom Schauspieler Armin Kopp in einer Lesung erstmals öffentlich vorgetragen. Alexander Sury und Wolfgang Häntsch ("Berner AutorenProjekts") brachten danach 1998 Teile des Stücks auf die Bühne, in einer Montage mit einem ebenfalls stark gekürzten Monolog von Werner Wüthrich (Figur des "Happy") und einem Prosatext von Urs Richle (Figur der "Dora"). Als Titel dieses Theaterexperiments wählten sie "Happy in Dorado City" (Uraufführung 12. Dezember 1998 im Schlachthaus Theater Bern zu Musik von Ejnar Kanding und Fritz Berthelsen mit Stefan Lenkisch als "Leidenberg, Nicolas", Christoph Sommer als "Harald 'Happy' Portner" und Anette Niggli als "Dora"). In einer neuen Besetzung (Wolfgang Häntsch als "Leidenberg") wurde "Happy in Dorado City" an verschiedenen Bühnen in Deutschland aufgeführt: vom 25. bis 27. Mai 1999 in Halle ("Neues Theater Halle"), am 28. und 30. Mai 1999 in Stendal ("Theater der Altmark Stendal"), und am 4. Juni 1999 in Dessau ("Katharinenkirche Dessau").

 

 

 

 

 

 

 

 

Integraler Text

 

 

 

(zur Aufführung im "sogar theater" gelangt eine von Peter Brunner, Otto Edelmann und Helmut Vogel gekürzte Version)

 

 

 

"Wenn ich Ihnen trotzdem schreibe, so nur deshalb, weil ich nach gründlicher Prüfung der Sachlage keineswegs überzeugt bin, dass Sie gestorben und 'den Weg allen Fleisches gegangen sind' (Jeremias 11,3). (...)
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr Nicolas Leidenberg"

(Niklaus Meienberg, Offener Brief an den frisch verstorbenen Charles de Gaulle, in: Weh unser guter Kaspar ist tot, Limmat Verlag, Zürich 1991)


"(...) ich weiss nicht genau, wieviel Ohnmacht erträgt der Mensch, und wieviel Wut."

(Niklaus Meienberg, Der wissenschaftliche Spazierstock, Limmat Verlag, Zürich 1985)


"(...) denn ein guter Stil lässt sich von der Person nicht trennen, ohne dass man sie vernichtet, der Stil ist die Person (...)."

(Niklaus Meienberg, ebenda)


"Die Liebe vergeht wie dieses fliessend Wasser
die Liebe vergeht
Wie ist das Leben langsam
Und die Hoffnung sehr gewaltsam"

(Niklaus Meienberg, Geschichte der Liebe und des Liebäugelns, Limmat Verlag, Zürich 1992)

  


I

 

Wie eine Wohnung aussieht? Wie sollen Wohnungen schon aussehen, wenn du nicht dort bist, wo du sein möchtest in deinem Leben. Einstweilen genug Unheil gestiftet. Auch Liebesunheil. Eine Denkpause ist fällig. Gefühlspause. Habe ich mir selbst verordnet. Wer allein lebt, schützt sich vor den unliebsamen Folgen der Naivität des eigenen Lebens. Sich einmal fallen lassen dürfen, um zu sehen, wie tief es runtergeht und wie weich der Aufschlag ist.
Kulissen eines Lebens. Ein Bett, ein Lehnstuhl, ein Sofa. Auf dem Boden Stapel von Büchern und Zeitungen. An der hinteren Wand und rechts je ein Fenster. Sie geben den Blick frei auf eine Strassenlaterne und auf die Fassade des gegenüberliegenden Häuserblocks, in dem allmählich die Lichter angehen. Es wird Nacht. Ich verharre im Halbdunkel, sitze bewegungslos an einer Wand. Es ist wie ein Rausch, so ruhig geht der Atem. Ich zögere es hinaus, Licht zu machen. Der Zustand der überraschenden Konzentration ist kein Traum und doch beinahe wie einer. Jeder Schmerz ist betäubt. Ein Kribbeln durchfährt mich. Bis in die Fingerspitzen spüre ich, wie das Leben noch immer in mir fliesst und rieselt. Ich sehe mir zu, wie ich in der Dämmerung in mir selbst versinke. Kleine Kinder fürchten sich vor dieser Stunde des Wolfs. Wenn sie nicht gefüttert werden, beginnen sie zu weinen. Ich liebte einmal eine Frau, die nannte das Evening Blues.
Einer der hart austeilt, muss auch einstecken können - das sagt sich so leicht. Als ob es keinen Unterschied gäbe zwischen den Wortgewaltigen der Macht und jenen der Ohnmacht. Wen habe ich schon umgebracht mit meinen Sätzen? Am Ende doch nur mich selbst. Soll ich nun gegen mich Prozess führen und mir das Geständnis abringen, ein zu harter Klotz, ein Mensch mit zu vielen Ecken gewesen zu sein? Einer der nicht einzufügen war in den Prunkbau dieser schönen Gesellschaft? Mein Leben sei ein Monolog gewesen, den kein Schwein interessierte? Hätten sich die Leute gewünscht, wie ich wehleidig werde, nachgebe, auf die Knie sinke, mürbe werde? Wollten sie lebendige Verzweiflung, Schreie hören? Eine öffentliche Hinrichtung statt eines stillen Abgangs? Miterleben, wie einem Unliebsamen die Haut abgezogen wird, einen Kopf fallen sehen? Ach, wie gerne ich ihn manchmal hergegeben hätte, diesen armen Kopf.
Mir gefallen Geschichten über Wiedergänger. Menschen aller Kulturen glaubten, dass gewisse Verstorbene keine Ruhe finden, gezwungen seien, umzugehen und ihre einstigen Bekannten und Gegenspieler- und spielerinnen als Gespenster heimzusuchen. Etwas in ihrem Leben bleibt noch unerfüllt. Erst danach steht ihnen das Totenreich offen. In manchen Fällen kann ihnen dabei von den Weiterlebenden geholfen werden. Ich wäre gerne ein solches Gespenst. Ich hätte da schon so ein paar Adressen. Das lässt sich leicht denken. Nein, ein Würgeengel wäre ich nicht. Ich sähe mich eher als Poltergeist. Aber die grimmigen Spässe wären eine reine Ausnahme. Das kann ich versprechen.
Ich war einer der Ungeliebtesten in diesem Land, das hörte ich immer wieder. Der sprichwörtlich gewordene Geist der Verneinung. Bocksfuss, Schwefelgeruch, die x-te Reinkarnation des Leibhaftigen. Nein, bei meiner Ehre, ich habe mich auch nicht annähernd so amüsiert, wie es ein Teufel täte. Alle diesbezüglichen Anekdoten wurden mir angedichtet. Am Gehörnten schlug die Leute stets die ausgeprägte Sexualität in den Bann. Nur deshalb setzte sich sein Mythos so leicht durch. Der Teufel ist das pornographische Unbewusste des Mannes: geil, machtgierig, verlogen -- und nicht sehr intelligent. Besser als die zölibatären Kleriker im Augenblick der Anfechtung konnte das niemand formulieren. Überhaupt lassen sich die Leute von nichts mehr faszinieren als vom Bösen. Meine hohen Auflagen erreichte ich nur, weil ich für böse galt. Dabei bin ich im Grunde genommen - Menschen sagen mir das immer wieder, wenn sie etwas länger mit mir zusammen sind - ganz... umgänglich.
Ein Heiliger war ich natürlich auch nicht. Intellektuelle sehen sich immer wieder mit der Erwartung konfrontiert, die negativen Kräfte der Welt auf sich zu ziehen. Die Leute möchten, dass wir das Schlechte märtyrerhaft am eigenen Leibe zum Vorschein bringen und überwinden. Sie lieben uns, wenn wir stellvertretend für sie leiden und sie davon dispensieren, die Qualen der Einsicht und der Reue selbst auf sich zu nehmen. Ganz unabhängig vom jeweiligen Thema finden sie es schön, wenn wir mit uns unzufrieden sind, zerknirscht unsere Sünden betrachten - und die geringen Aussichten einer Besserung -, um schliesslich in luftigen Sätzen die angeblich alleinige Erlösung durch den Tod zu besingen. Die Guten! Ich wäre nicht ungern ein Heiliger geworden, hätte vielleicht das Zeug dazu gehabt. An einer bestimmten Stelle meiner Biografie bin ich in meiner Entwicklung auf dieses Ziel hin steckengeblieben. Liess mich ablenken, in mancherlei Versuchung führen.

Hinter den grossen Versuchungen verbergen sich die gefährlichsten Wahrheiten. Ich weiss nicht, woran es liegt, dass Wahrheiten mich traurig stimmen. Ich hätte mich mit fröhlichen Weisheiten zufrieden geben sollen.

Das Verbrechen aller Intellektuellen ist nicht, dass sie das Falsche glauben, sondern die Art, wie sie das angeblich Richtige beschreiben. Stil ist die Grundanforderungen an infame Literatur.
Wenn die Intellektuellen zu Scherzen aufgelegt sind, nennen sie sich Philosphinnen und Philosophen und sagen: Wir verrichten Geistesarbeit. Hoch über den Köpfen der Menge vollbringen sie ihre Kunststücke, balancieren einsam auf dem hohen Seil. Die Kluft ist nicht zu überbrücken. Die Leute recken die Köpfe und sehen von oben aus wie Tote, die angewurzelt, regungslos, mit offenem Mund in die Wolken starren. Die Seiltänzerinnen und -tänzer versuchen zu sprechen, doch was sie auch sagen, sie bleiben für das Publikum unten stumm. Dieses erblickt nur ihre Kapriolen und wartet auf den Augenblick, da sie abstürzen. Es spendet Beifall, solange sie obenbleiben, aber eigentlich malt es sich unentwegt aus, wie sie runterfallen. Schwindlig werden lässt dieses Publikum nur der Gedanke an ihren lautlosen Sturz, was immer sie in der Höhe treiben. Wer auf dem hohen Seil tanzt weiss, dass der Marktplatz der Gefühle hart ist und kalt. Eine einzige falsche Bewegung genügt. Ungestraft erhebt sich keine und keiner auf Dauer in die Lüfte.

Ich versuche mich aufzurappeln. Die Wand im Rücken fühlt sich allmählich kühl an. Ich mache ein paar Schritte, staune wie so oft über die Unordnung in meiner Wohnung und setze mich in den Lehnstuhl. Ich knipse die Ständerlampe an. Ob ich was lesen sollte?
Kürzlich kam einer mitten in der Stadt auf mich zu und sagte mir: Sie mit Ihrem Kopf, ich kenn Sie doch? Sie bleiben mir sympathisch, trotz allem, was Sie schreiben. - Trotz allem? räusperte ich mich, und blieb einen Augenblick stehen. - Haben Sie Geduld, fuhr er fort, die Zeit wird's schon richten. Die Zukunft will, dass wir ihr Vertrauen entgegen bringen, sie lässt uns nur etwas zappeln! Sagte er und sah mich mit gutmütigen Augen an. - Wir werden die Dinge schon selbst in Bewegung bringen müssen, aber lassen Sie sie schön von mir grüssen, Ihre zu Scherzen aufgelegte Zukunft, sagte ich.
Ein andermal, es ist auch noch nicht lange her, sass ich allein in einem Restaurant, da beugte sich plötzlich eine Frau über meinen Teller und sprach: Sie sind doch... - Genau der, sagte ich. Sie verstummte und nahm, ohne eine Einladung meinerseits abzuwarten, mir gegenüber Platz. Ihren Augen nach zu schliessen ging ihr eine ganze Menge durch den Kopf, aber sie sagte keinen Ton. Bestaunte mich wie ein Denkmal, einen in Stein gehauenen Toten. Ich machte ein paar Faxen, doch sie liess sich nicht aus der Ruhe bringen. Da sass ich vor ihrer inneren Kamera und liess mich von ihren Pupillen filmen. Ich kaute weiter an meinem Essen rum, und nach einer Weile sagte ich: Nun, was werden sie ihren Freunden und Freundinnen über mich erzählen? - Ohne weiter zu überlegen sprach sie: Dass Sie ein sanfter Mensch sind, ganz im Gegensatz zu den landläufigen Gerüchten. Sie könne das hören, sie habe in mich hineingelauscht. Dann legte sie ihre Hand für einige Sekunden auf meinen Arm, erhob sich und ging, mit einem seligen Lächeln als Gruss.
Leute gibt's. Für die einen bin ich die Personifikation alles Bösen, für die anderen eine Lichtgestalt. Wer auch nur halbwegs berühmt ist, egal ob verdienter- oder unverdientermassen, spielt plötzlich Rollen im Leben anderer, von denen er oder sie nicht die geringste Ahnung hat. In den meisten dieser Gesellschaftsspiele bin ich Strolch, Rabauke, Grobian. Wenn ich nur Pieps sage, kriege ich schon eine an den Kopf. Ich stehe wie ein Blitzableiter in der geistigen Landschaft und ziehe den Volkszorn auf mich. Das ist die Aufgabe aller Intellektuellen: Schlimmeres verhüten. Wenn wir daran verbrennen, werden wir gross.
Ich kriegte sehr viel Hasspost. Briefe vor allem, aber auch Pakete. Jede Menge Morddrohungen und dergleichen. Die Leute lassen ihrer Fantasie freien Lauf. Ein blühendes literarisches Genre. Da gibt es welche, die stellten mir auf die liebenswürdigste Weise ihre Dienste zur Verfügung, um mir mit zwei spitzen Fingern die Augen auszudrücken, mit einer Axt den Kopf abzuhacken, mich an die Wand zu stellen oder ganz einfach plattzuwalzen, mit dem Geländewagen etwa, in Ermangelung eines Panzers. Die Breite des Angebots machte mir die Auswahl natürlich schwer. Andere freundliche Mitmenschen liessen mir einen Strick zukommen, leider ohne ihre werte Mithilfe in Aussicht zu stellen. Hätte alles selber machen mussen. Das war mir zu kompliziert. Besondere Delikatesse zeigten jene, die mir, schön verpackt, zur Ehrerweisung die Tagesproduktion ihres Allerwertesten überreichten, als wäre es ein Kuchen. In Fragen des Geschmacks einer Lebensphase verbunden, in der sie auf den Inhalt ihres Töpfchens noch stolz sein durften. Der durchdringenden Wirkung ihres Charmes eine Spur zu sicher. Pakete öffnete ich früher gern. Nun bin ich auf der Hut vor freigiebigen Parfümeuren, Visagisten und bereitwilligen Masseuren, die mir das Gehirn gehörig durchkneten und in eine ansprechendere Form bringen möchten. Den Ästhetinnen und Ästheten dieses Veredelungsvereins bin ich noch immer nicht attraktiv genug. Was haben Sie Gott angetan, dass er Sie zur Welt hat kommen lassen, schrieb einmal einer, der mich für einen Umstürzer hielt. Als ob Umstürze sich nach dem Gutdünken einzelner wie mir ereigneten. Das ist reine Fantasie, auch wenn zuweilen selbst gestandene Revolutionäre an dieses Märchen glauben.
Zu Revolten kommt es nur, wenn mitten in einem als Recht geltenden Unrecht eine andere Politik möglich und vielversprechend scheint, wenn ein starker Entwurf eines höheren Rechts vorliegt, dessen Umsetzung von den Bevorzugten der bestehenden Ordnung mit Lüge und Gewalt verhindert wird. Die Intellektuellen suchen nur nach Formulierungen grösstmöglicher Schärfe für den Schmerz in der Welt. Sie erfinden ihn nicht.
Bloss weil ich noch an eine andere mögliche Form des Lebens auf der Erde zu glauben wagte, wurde mir vorgeworfen, ich vertrete die Idee eines idealen Staats und sei eo ipso ein Parteigänger all jener misslungenen Weltverbesserungsversuche, die in die Massengräber der Geschichte führten. Selbst wenn hundert Versuche, der Menschheit ein menschlicheres Gesicht zu verleihen, scheitern, gibt uns das nicht das Recht, uns mit dem existierenden Unrecht abzufinden. Jene, die die gegenwärtige Weltordnung preisen, was haben sie nicht alles getan, um das Scheitern der Utopien zu bewirken.

Wie lange das Telefon wohl schon klingelt? Manchmal überhöre ich es. Nein, es ist tot. Mein Kopf spielt mir nur was vor. Anrufe, die noch immer nachhallen. Ja? Was? Ist ja reizend! Erschiessen? Und wenn Sie nun schon zu spät gekommen wären? Wie der bloss wieder schreit. Das Entfernen des Hörers vom Ohr reduziert jedes Gekreische auf ein erträgliches Mass, eine halbe Armlänge genügt schon. Ach, wenn er sich nicht von selbst beruhigt, dann legen wir eben den Hörer einfach wieder auf.
Ich habe ein paar Mal versucht, die Nummer zu ändern. Schon nach ein paar Tagen begann das Theater von neuem. Wirklich lästig sind eigentlich nur diejenigen, die mir ungebeten den halben Versandhauskatalog ins Haus schicken lassen. Es gab Monate, da hatte ich täglich den ganzen Korridor voll unbestellter Waren. Die sperrigen Güter wie Waschmaschine, Kühltruhen und dergleichen werden zur Abholung aufs Postamt geschickt. Muss ich alles auf die umständlichste Weise retournieren. Versaue meine Zeit mit Formularen und unangenehmen Amtsgängen. Noch ärgerlicher sind jene Gestalten, die mit meiner gefälschten Unterschrift sogenannte Reuebriefe in der Gegend herumschicken und alles, was ich je geschrieben habe, widerrufen. Ich bekomme dann rührende Antwortschreiben von hochgestellten Persönlichkeiten des politischen Lebens, die mir zu meinem Gesinnungswandel gratulieren, mir gut zusprechen - sie hätten das eigentlich gar nie so ernst genommen, was ich gegen sie schrieb, vergessen sei doch vergessen -, zusammen mit Einladungen zu Bootsfahrten, gediegenen Abendessen, rauschenden Parties. Sogar Stellen boten sie mir an, meine politischen Gegnerinnen und Gegner. Nicht zum Aushalten.

 


II

 

Dieselbe Wohnung ist nie dieselbe Wohnung. Tageslicht verwandelt sie. Musik ebenso. Vom Besuch eines anderen Menschen ganz zu schweigen. Ich erinnere mich an besondere, sehr unschuldige Besuche. Sie müsse jetzt wieder gehen, sagte sie. Entflog wie eine Taube. So beglückt von ihrer Gegenwart und dem uns nie ausgehenden Gesprächsstoff, wäre mir nicht einmal der Gedanke gekommen, sie festzuhalten.
Ich sitze auf dem ungemachten Bett. Eine Kanne Kaffee steht in meiner Nähe. Die Tasse habe ich neben mir auf den Boden gestellt. Ich trinke ab und zu einen Schluck.

Ich höre deine Stimme noch. Spüre kühlend, wärmend deinen Atem, wie er über meinen Körper streicht, so unendlich weit von mir weg. Geliebte, Ferne, mir so nah.
So ein Sonntagmorgen, einer von vielen. Nichts bewegt sich, nichts geschieht. Leichter Schneefall. Nur aus dem Radio, Klänge voller Erinnerung. Es gibt Liebe, die erkennt sich zu spät.
Jede Melancholie geht auf den Verlust eines Kindheitsglaubens zurück. Wir sind immer gleichzeitig Kind, erwachsen und steinalt im Leben, nur die Perspektive ändert. Die Illusionen vergehen. Wir bemühen uns, das Schreien aufzugeben und werden genügsam.
Sehnsüchte haben den Menschen nie viel eingebracht. Denn im Grunde genommen fürchten wir uns, geliebt zu werden. Wir träumen von der grossen Liebe, behaupten, untröstlich und allein zu sein, und tun dennoch alles, dass nichts geschieht. Um sich ja nicht zu verlieren. Denn mehr noch als die Liebe selbst lieben wir die Möglichkeit jederzeitiger neuer Liebe, die unantastbare Freiheit, grenzenlos zu sein. Der Traum genügt im Grunde, nichts berauscht stärker, als die Vorstellung, sich plötzlich vor der fantasierten Idealgestalt zu sehen, und so alle zwei, drei Jahre passiert das uns auch, und allen möglichen Bekannten, die es hören wollen, erzählen wir dann, wie wunderbar sie sich anfühle, die Liebe. Aber schon wenig später sind wir wie verwandelt, schauen niemandem mehr in die Augen, kriechen den Häusermauern entlang, gesenkten Blicks: Es hat uns nicht gefallen, das Geliebt-Werden, so nicht, haben darum der Wirklichkeit einen Tritt in den Hintern versetzt, sich mit einem Ruck entliebt und dabei wieder einmal, zum wievielten Mal, halb entseelt. Den scharfen Pfeil aus dem Herz gerissen. Sich schütteln vor Abscheu und Entsetzen über das Kleinmass des bloss Menschlichen. Kein Problem mit Problemen, ausser du bist selbst eines - oder liebst eines. Du willst die Last deiner eigenen Liebe nicht, und jene dieses anderen Menschen schon gar nicht. Die Lösung für Schwieriges besteht darin, es rechtzeitig loszuwerden. Zu starke Bindungen sind viel zu gefährlich. Es wimmelt ja nur so von Selbstmörderinnen und Selbstmördern, Verzeihung, solchen die die Todesstrafe freiwillig an sich vollziehen. Wer will da schon ein Risiko eingehen und Stolperstein spielen für Seelen im Abgang. Das einzig sichere bei der Liebe sind ohnehin nur die Schuldgefühle. In diesen seltsamen Spielen um den schönen Schein und rasch verglimmende Leidenschaft überleben nur bewegliche Ziele. Erkennbarkeit ist Schwäche. Du verpflichtest dich höchstens zur Unverbindlichkeit. Unter den Liebenden gibt es nur das Geschlecht derer, die von selbst gehen, und das Geschlecht jener, die verlassen werden wollen.
Auch ich sehe noch Augen vor mir, die ich verlassen habe.
Ich bin kein einfacher Mensch.
Wir Männer sind wunderliche Tiere. Eine Zeitlang wirken wir anziehend, trotz der relativen Schwerfälligkeit unserer Liebreize. Ein paar pochende Herzen sind mir schon zugeflogen, flogen aber auch wieder davon, wenn sie sich herzhaft ausgepocht hatten.
Ich verstehe es ja. Ich hätte mich selbst auch verlassen. Menschen suchen, wenn sie lieben, auch innere Ruhe. Das konnte ich nie bieten. Auch mir selbst nicht. Ohne Momente der Stille wird das Leben zur Qual.
Ich drehe diese Erinnerungsmusik aus. Das Gehör ist wie alle unsere Sinne sehr vergangenheitslastig. Wir kämpfen in einem fort gegen unsere Sentimentalität.
Ich giesse mir nochmals einen Kaffee ein und ärgere mich über meinen Seufzer.
Allen Menschen, die mich nicht länger verkraften konnten und auf sichere Distanz zu mir gingen, gestehe ich mildernde Umstände zu. Wir Schreibenden zeigen von uns den lieben Tag lang nicht viel. Meist nur den Rücken. Und wenn wir uns auf ein Gespräch einlassen, dann sprudelt es nur so aus uns hervor. Wir neigen, wenn wir mal sprechen, dazu, andere mit unserer Wortgewalt zu erschlagen. Vielleicht habe ich ohne zu wissen doch schon jemanden umgebracht. Innere Verletzung mit Todesfolge. Hinschied Jahre nach dem Vorfall. Es gibt keine Ausrede dafür, andere nicht zum Reden kommen zu lassen.
Wer von Berufs wegen mit der Sprache arbeitet, wird in der Freizeit erst recht zum Scheusal. Der Austausch gewöhnlicher Nettigkeiten wird zum reinsten Dressurakt. Gebändigt willigen wir allenfalls darin ein, unsere Opfer nur noch kunstvoll zu zerfleischen.
Aber die meisten Menschen ahnen ja nicht einmal, wie unzusammenhängend sie sprechen. Ich war dashalb bei Gesprächen sehr oft mit meinem Kopf woanders, hatte Mühe, an mich gerichtete Worte bis zum Ende anzuhören, beschäftigte mich in Gedanken anderweitig, um nicht dauernd zu unterbrechen, dachte mir vorweg Verbesserungen und Varianten der Sätze aus, die sie zu mir sprachen, und legte ihnen diese Worte unvermerkt in den Mund. Oder ich begann, um der Schläfrigkeit vorzubeugen, mir die Zeit damit zu vertreiben, sie zu interviewen wie vor einem Mikrofon. Wir werden leicht verletzend, das liegt an dieser gewissen Unerbittlichkeit des Denkens, die von uns verlangt wird, wenn wir öffentlich auftreten. Die Leute wollen lieber Blut sehen als sich langweilen. Doch wehe du ritzst ihnen selbst die Haut.
War ständig am Telefonieren. Stapfte wie ein eingesperrtes Raubtier in meiner Wohnung herum, wenn ich am Nachdenken war. Konnte niemals innehalten. Musste, bevor ich schrieb, zuerst immer meinen ganzen Stoff erzählen. Ich konnte im Grunde genommen nur schreiben, indem ich erzählte.

Es ist eine ganz neue Erfahrung, einfach stillzusitzen. Nichts mehr zu tun. Nie wieder. Oder eine ganz alte Erfahrung, je nachdem. Was mir als Säugling wohl so durch den Kopf ging? Lag da und guckte dumm aus der Wäsche, wenn Erwachsene unversehens in den verniedlichenden Tonfall verfielen, den sie für Babysprache hielten. Ich war schon als Neugeborener grausam, unerbittlich. Losplärren, das wär jetzt so einfach.
Neulich rief ich einem Kollegen an. Eine Kinderstimme nahm ab, ich sagte, wer ich sei und nannte den Namen des Kollegen, ob er da sei, und schon tönte ein lautes, langgezogenes Papa durch die Leitung, dann wurde der Hörer abgelegt und von etwas weiter weg kam noch einmal dieses laute Papa. Schliesslich waren Schritte auf einer Holztreppe zu hören, und der Kollege kam an den Apparat.
Ich weiss nicht, wie es anderen in solchen Augenblicken geht, aber es gibt Momente, da fühle ich mich kinderlos. Das ist ja ein furchtbares Wort, an und für sich.
Kinderlosigkeit. Als ob jeder Mensch von einem gewissen Alter an Kinder zu haben hätte. Wie oft habe ich mich nicht über die Kinderwünsche meiner Bekannten lustig gemacht. Was wollte ich mit greinenden Zwergausgaben meiner eigenen Wenigkeit, habe mit mir selbst genug zu tun. - Du weisst nicht, was das ist, Vater oder Mutter zu sein, wurde mir immer entgegengehalten. - Ich war froh, dass ich es nicht wusste. Die ganze Plackerei. Aber seit einiger Zeit habe ich einen Kinderstimmenkomplex. Es macht mich kaputt, wenn ich so einen Knirps höre.
Wäre ein schöner Einstieg in eine Psychoanalyse, dies, ein wahres Fressen. Aber ich habe mich nie mit dem Prinzip anfreunden können, dass ich auch noch dafür bezahlen soll, wenn ich schon Geschichten erzähle. Ich habe es einmal versucht, und zahlte auch, denn ich war nicht besonders witzig. Aber ich bin zu zappelig. Es ging mir zu wenig schnell. Auch hatte ich die üble Tendenz, das Frage- und Antwortspiel selbst zu bestimmen. Da hörte ich eben wieder ich auf. Ich bin ein schlechter Neurotiker, weiss eigentlich schon zuviel über mich, bin mir selbst ein zu grosser Spiegel. Vielleicht sollte ich es nochmals versuchen. Wäre doch ganz angenehm: Sich ausstrecken und quatschen. Wie im Alten Rom. Wer im Liegen nicht philosophisch werden möchte.
Wenn ich schrieb, hatte ich wenigstens das Gefühl zu arbeiten. Jemandem sein Leben zu erzählen, schafft allerdings ein besonderes Verhältnis. Wie die Liebe. Das ist das Berauschende am Verliebtsein: Einer anderen Person noch einmal ein Unbekannter sein. In dieser unerwarteten Gegenwart ganz zu sich selbst zu kommen.
Vielleicht rühren uns Kinder deshalb so stark an. Sie bringen in uns etwas zum Klingeln, ob wir wollen oder nicht. Ist natürlich eine abgekartete Sache, das brocken uns die dummen Chromosomen ein. Wir gehen wie ein Wecker, wenn uns der Instinkt packt und wir gerade mal nicht aufpassen. Die Seele ist ein genetisches Programm, das uns ganz schön im Griff hat.
Manche Leute haben Kinder, um einmal in ihnen weiterzuleben. Sie kommen sich so weniger sterblich vor.

Wer hätte sich noch nie Gedanken über das eigene Leichenbegängnis gemacht. Hagelwetter oder Sonnenschein? Ich habe alles vorgekehrt um zu verhindern, dass jemand falsche Töne setzt. Ich hasse salbungsvolle Worte. Zweimal im Leben stehen wir ganz im Mittelpunkt. Bei der Geburt und wenn die Welt von uns Abschied feiert. In beiden Fällen: Was für eine Erleichterung für alle Beteiligten, wenn wir endlich das Weite suchen! Ich werde mich nicht begraben lassen. Für viele ist der Gedanke an den Aufenthalt unter der Erde tröstlich. Ein schönes Plätzchen unter einer Trauerweide, zum Beispiel. Mich, beziehungsweise meiner Asche, gelüstet's mehr nach einem kühlenden Bad in einem anständigen Fluss. Im Ozean ausgestreut zu werden wäre auch nicht schlecht. Werden wir eben zu Fischfutter. Gefressen werden wir so oder so. Wenn nicht schon zu Lebzeiten, dann nachher. Lieber noch ein bisschen schwimmen gehen.
Gesetzt den Fall, so fragte ich schon einmal eine verdutzt dreinblickende Person, Sie setzten Ihrem Leben selbst ein Ende, was würden Sie in Ihrem Abschiedsbrief denn schreiben? Wem würden Sie in Ihrer letzten Stunde übel wollen? Ihrer grossen Liebe, sich selber, oder dem Leben schlechthin? Vielleicht wären Sie auch niemandem böse. Nähmen alles auf sich, damit sich ja niemand schuldig zu fühlen braucht. Dabei betrieben Sie aber Geschichtsfälschung. Denn Sie kennen die Namen derjenigen genau, die jeden Tag daran arbeiten, Sie ins Grab zu bringen. Sehen Sie, ich finde, dies sind wir doch der Nachwelt schuldig: Die Tatsachen nicht zu verschweigen. Ein Leben - gegen das Recht, die Wahrheit auszusprechen. Schonungslos. Was ist das schon! Da fängt der kritische Journalismus an, bei so alltäglichen Dingen wie Abschiedsbriefen und Testamenten. Ist doch wahr! Die anderen haben uns auch nicht geschont! Leisten Sie sich, wenn schon, diese letzte Freiheit: lustvoll Namen anzugeben, einmal abzurechnen. Wer weiss, vielleicht bringen Sie dann plötzlich den Mut auf, den Betreffenden Ihre Meinung sogar persönlich zu sagen. Vorher schon. Setzen Sie sich durch! Das tut Ihnen möglicherweise so wohl, dass Sie es auf wundersame Weise gar nicht mehr so eilig haben, mit Ihrem Leben Schluss zu machen.
Der schlimmste Moment kommt, wenn Sie merken, dass Sie gar nicht hassen können, obwohl es in Ihnen glüht. Wenn Sie spüren, dass Sie eigentlich gar nicht sterben, sondern lieben möchten, es aber angesichts der Umstände auch bei aller Anstrengung nicht mehr vermögen. Zuviel ist schon verschüttet. Das Bergwerk der Gefühle ist in sich zusammengebrochen. Um die Stollen zu Ihrer Seele freizulegen und den Schwelbrand zu löschen, würde es Leute vom Fach brauchen. Doch sich aufzuraffen und selbst solche aufzusuchen, dazu fehlt Ihnen womöglich die Kraft. Also lassen sie sich in ihrer privaten Hölle vom Feuer innerlich ausbrennen, bis Ihnen die Flammen aus dem Haupte schlagen.

 


III

 

Bei meinem letzten Auftritt sass ich allein auf dieser leeren Bühne, und sprach ins Publikum, ohne mich selbst überhaupt noch zu hören. Ein Pressefotograf näherte sich mir. Mit dem Blitzlicht voll ins Auge. Durch einen weisslichen Film hindurch sah ich noch, wie jemand ihn dann wegzog, ihm etwas zuflüsterte und er dann schnell zusammenpackte. Hatte seine Arbeit unter widrigen Bedingungen getan. Ich musste weiter reden.
Ich weiss nicht, sagte ich, ob sich jene, die mir in Ihren Zeitungen ein Schreibverbot verhängten, wirklich erhofften, ich würde fortan schweigen, und ob irgend jemand der Meinung war, es genüge, mir den Auftrag für ein Theaterstück über den Krieg zu entziehen, um die Erinnerung an diesen nun schon Geschichte gewordenen Krieg zu tilgen.
Mein Kopf, dachte ich. Entsetzlich die Mühe, die es mich kostete, nicht abzuschweifen. Nach einer viel zu langen Pause sprach ich weiter: Ich brauche das Stück nicht mehr zu schreiben. Die Komödie der peinlichen Verlautbarungen, fadenscheinigen Richtigstellungen und faulen Dementis seitens der Verantwortlichen ersetze in ihrer Lächerlichkeit definitiv alles, was ich mir hätte für die Bühne ausdenken können, und ich sähe mich meinerseits von dem Auftrag entbunden. Ohne mir selbstverständlich das Recht zu schreiben nehmen zu lassen, fügte ich hinzu. In mir drin aber wusste ich, dass damit ein für allemal Schluss war.
Auch alle Anwesenden schienen dies zu ahnen. Wie Hyänen warteten sie, dass ich mich für erledigt erkläre. Sie heulten schon in Erwartung des in Aussicht stehenden Festmahles. Doch diesen Gefallen wollte ich ihnen nicht tun. Ich war nur froh, sie bald für immer los zu sein. Nicht mehr ihr Kasper sein zu müssen in solchen Dingen. Und in allen anderen. So mühte ich mich weiter durch meine schleppende Rede, so wie ich mich danach auch mühselig allein nach Hause schleppen würde.
Wie hätte ich mir, fuhr ich fort, die Bilder dieses Vernichtungswerks, Krieg genannt - schon der Name sei eine Verharmlosung, als handelte es sich um einen möglichen Zustand menschlicher Beziehungen unter anderen -, wie also hätte ich mir diese Bilder, die wir täglich vorgesetzt bekamen, schweigend ansehen sollen? Mir wurde vorgeworfen, Tränen für die Falschen gehabt zu haben, die Schuldigen in Schutz zu nehmen. Mir wurde übelgenommen, öffentlich die Gewalt der Richter und Richterinnen zu verdammen, den Sinn der Strafaktion nicht verstanden zu haben, nicht zu begreifen, dass die pädagogische Härte der militärischen Exekution notwendig war. Mir wird angelastet, geschrieben zu haben, der Appell an den menschlichen Tötungsinstinkt, der aus den Fernsehbildern spricht, sei zum Kotzen, und die Mechanik des inszenierten Grauens, mache mir Angst.
Vor meinen Augen begann sich der Raum zu drehen. Ich spürte, wie ich mich zu sehr nach vorn lehnte, sah plötzlich dieses schwarze Loch, dessen Sog du widerstehen musst, wenn du öffentlich sprichst und dich selbst nicht verlieren willst, denn es ist eine künstliche Situation, dieses Sprechen, das ohne Antwort bleibt, dieses zu mehr als einem Menschen gleichzeitig Reden. Du erweckst den Anschein, jeder einzelnen Person nahe zu sein, doch du stehst auf einem anderen Planeten und redest in einen unendlich weiten, dunklen Raum hinein.
Zu den Vorbereitungshandlungen jedes Krieges - ich fand den Faden allmählich wieder und zwang mich weiterzusprechen - gehört es, den Gegner zu entmenschlichen, ihm jedes Verständnis zu entziehen. Jede einzelne seiner negativen Seiten wird grell beleuchtet, alles, was für ihn sprechen könnte, unterdrückt. Vergleiche mit den finstersten Gestalten der Geschichte werden gezogen. Danach darf gehasst werden. Von der Aufgabe, die Verhältnisse, die zum Konflikt geführt haben, zu begreifen, werden die Zuschauenden freundlich befreit. Parteinahme ist erwünscht, wie am Boxring: Hack ihn nieder! Gib's ihm! Schlag ihn K.O.! Wenn schliesslich die Bomben niedergehen, denkt sich ein jeder und eine jede: Recht so, der hat es nicht anders verdient!
Ich nehme nichts zurück. Die Kriegsberichterstattung erfolgte zu lustvoll, als dass ich nicht hätte fürchten müssen, es seien viele Leute nur froh um die Gelegenheit, ohne Hemmungen auf Menschenjagd zu gehen. Es stimmt, ich habe mich hinreissen lassen und die Partei der bestraften Zivilbevölkerung ergriffen, so vulgär blutrünstig und falsch und gemein deren Führung sich auch selbst gebärdete. Es heisst, ich hätte mich auf diese Weise mit dem Bösen identifiziert, den meinigen den Rücken gekehrt, hätte erst hingeblickt, als es Schläge der unsrigen hagelte, dabei übersehen, wie der Krieg begann. Ich wiederhole nur eins: Wenn ein Opfer, widerstandslos geworden, gepfählt, von Pfeilen durchbohrt, aus allen Löchern Blut pisst, und dies dem Tribunal der Gerechten noch nicht genug ist, dann werde ich auch in Zukunft Aufhören schreien, in Panik verfallen und meine Zurechnungsfähigkeit verlieren, wenn es Leute gibt, die dem so sagen wollen.
Ich kann keinen Trennungsstrich zwischen mir und anderen ziehen, wenn diese im Bombenhagel stehen und ich zuschaue. Je klinischer die Fernsehbilder den Krieg schildern, desto blutiger ist er. Die versteckten Toten kriechen aus allen Ecken hervor, vervielfältigten sich, erheben Anklage. Ja, das stimmt, ich habe denen, die sich die Genehmigung zum Töten ausstellten, geheime Absichten und unlautere Methoden unterstellt. Wer will, nenne das Zeichen des Deliriums. Ich schäme mich nicht, angesichts von Leichenfeldern zu delirieren.
Bilder, die den Krieg realistisch abbilden, sind Bilder gegen den Krieg. Das wissen die Kriegführenden aller Länder, deshalb blenden das Grauen und den Tod aus, wenn sie aus dem Krieg berichten und den schmutzigen Krieg zu einem sauberen Krieg erklären. Das Publikum ist ihnen dankbar. Fürsorglich erspart ihnen die Zensur die widerwärtigen Bilder. Je besser die Propaganda, desto schöner der Krieg, und je ruhmvoller der Sieg, um so höher die politischen Dividenden. Dagegen gestatte ich mir zu sagen: Krieg ist immer ein unkalkulierbares Massaker - und dessen Präsentation als sauber stets obszön.
Gewiss, ich bedauere einige meiner Worte. Denn ich weiss, dass Sätze ihr eigenes Leben haben. Ihr Sinn ist nicht immer festgelegt. Sie werden in die Welt hinausgebrüllt, verhallen fast ungehört. Doch sie können sich unvermutet und unkontrolliert selbst wieder in Marsch setzen. Das werfe ich mir vor: Einige Sätze in die Welt gesetzt zu haben, von denen ich nicht weiss, wie sie einmal verstanden werden könnten. Das Fatale am Schreiben ist, dass wir missratene Sätze nicht mehr zurückholen, nicht wieder einfangen können. Sie bleiben gesagt. Ein einziger übler Satz kann ausreichen, um uns in ein Ungeheuer zu verwandeln. Manchmal hebt ein ganzes Werk einen solchen Fehler nicht wieder auf.
Im Dunkel zu sehen lernen, das wünschte ich mir. Nichts mehr hören zu müssen in meinen Träumen.

 


IV

 

Jede Wohnung wird zu einer zweiten Haut des Körpers. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages dringen durch das Fenster, ich schaue den langen Schatten nach.
Wir wissen nicht immer, wer wir gerade sind, wenn wir sprechen. Doch weil wir nur einen Mund zum Sprechen haben, halten wir uns für unverwechselbar. Menschen sind nur ganz selten eins mit sich selbst. Ich halte oft Selbstgespräche. Oft führe ich mit mir ganze Interviews.
Ich bekenne mich schuldig ganz im Sinne der Anklage, mein Delikt ist der Dissens - klingt viel zu pathetisch, gestrichen, da hört niemand die Ironie raus. Ich weigerte mich, mit der üblichen Auffassung der Dinge übereinzustimmen. Das ist besser. Ich störe mit Absicht den geölten Wohlklang des staatlichen Orchesters. Ich fand, Misstöne braucht es, sie seien schön. Sie erweitern unser Wahrnehmungsvermögen. Ich aber störte wohl. Meine Stimme war nicht einlullend genug. Meine Modulationsfähigkeit genügte nicht dem Geschmack derer, die den Ton angeben. Zu viel Gekrächze, keine Harmonie.
Was heisst und zu welchem Ende empfiehlt sich Schweigen?
Ja, ich habe Kollegen- und Kolleginnenschelte betrieben, selbst Freunde nicht geschont, unerbittlich mit ihnen abgerechnet. Es genügte mir nicht, wie sie arbeiteten. Das war alles. Was sie schrieben, schien mir im besten Fall fahrlässig, im schlimmsten Fall gemeingefährlich. Kann sein, dass ich einigen unter ihnen wehtat, wenn ich mit Worten auf sie eindrang. Viele könnten schreiben, sagte ich, bei den wenigsten sei es zwingend.
Natürlich nahm auch ich die Dinge persönlich. Ich musste mir nachsagen lassen, es sei eine ungeklärte Frage, wer sich mehr von mir fürchte - meine Feinde oder meine Freunde. Die Armen, wenn sie nicht einmal mehr meine Kritik ertragen. Vielleicht war das eine Schwäche von mir, aber ich konnte, wenn es um öffentlich relevante Dinge geht, nicht diskret sein. Ich plauderte alles aus, was mir informierte und gut dokumentierte Leute aus den öffentlich unzugänglichen Sphären der Politik zutrugen. Ich kannte kein Beichtgeheimnis. Wer mir etwas anvertraute und sich dadurch in Schwierigkeiten brachte, nahm dies in Kauf. Ich hatte ein ziemlich gutes Personengedächtnis. Ich verbrachte meine Jugend zufällig in einer Eliteschule und lernte viele unter den heute Mächtigen schon als Zöglinge kennen. Ich entwickelte schon sehr früh eine Neugier für die wundersamen Begleitumstände mancher öffentlicher Karrieren. Ich arbeite ohne Karteien, nur mit Sinneseindrücken. Nicht meine Schuld, wenn ich mich an vieles erinnerte, das manche gerne vergessen machen wollten. Kungeleien, Familienverbindungen als Erfolgsleitern - für die Bewegungen im Räderwerk der Macht war ich hellhörig wie für das Schliesswerk eines alten Tresors und kam ganz ohne Schweissbrenner aus. Die Geheimnisse geben sich selbst preis.
Ich sehe mich, wenn schon, als Pressesprecher des Unausgesprochenen. Ich glaube an den Segen der uneingeschränkten Information. Selbstverständlich auch was meine eigene Person betrifft. Aus den seltsamen Begebenheiten meines eigenen Lebens machte ich nie einen Hehl. Das irritierte meine Gegenspieler am meisten. Mit gierigem Hass schlürften sie die Details meiner Lebensgeschichte, nur für den Fall, dass sie einmal in die Lage kämen, sie vor mir wieder auszuspucken. Immer einen Schritt schneller sein in der Selbsterkenntnis, das ist die einzige Schutz, den es gibt. Wer sich selbst offenlegt, braucht Kritik nicht zu fürchten. Wer sich selbst nicht härter kritisiert, als es Aussenstehenden aufgrund verfügbarer Informationen möglich ist, konstruiert sich eine Lebenslüge und taugt nicht für ein öffentliches Amt. Taugt auch nicht für die Literatur, ich nehme die Intellektuellen davon nicht aus.

 


V

 

Diese Stille. Manchmal hege ich plötzlich Zweifel, ob hier in dieser Wohnung je ein Gespräch stattgefunden hat. Stimmen hinterlassen keine äusseren Spuren. Ich könnte aufstehen, an den Wänden entlang gehen. Aber wo ich auch hinhorchen würde, die Mauern blieben stumm. Ich würde nur meine Schritte und meinen Atem vernehmen.
Vielleicht sollte ich mich mit geschlossenen Augen an die Schreibmaschine setzen und so zu lauschen versuchen. Ich knipse das Licht aus und lege meine Fingerspitzen auf die Tasten. Nein, es ist zu still. Ich muss selbst reden, wenn ich etwas hören will. Aber ich habe nichts mehr zu sagen. Selbst wenn jetzt das Telefon klingelte. In das erwartungsvolle Schweigen hinein würde meine Stimme nur sagen: Entweder diese Stille oder dann hastige, gepresste Worte. Was ist dir lieber. Lautloser Lärm oder Litanei. Ich könnte dir für eine Minute meinen Kopf abtreten. Die Ohren würden dir brausen. In mir redet es unaufhörlich. Ich ersticke, wenn ich nicht sprechen kann. Unablässig produziert mein Hirn Worte, Reden, imaginäre Dialoge. Ein einziges Rauschen. Es kommt mich manchmal an, wie ein Tiger in meinem Zimmer auf- und abzugehen, um den Körper in denselben Rhythmus des Kreisens zu zwingen wie meine Gedanken und so eine relative Ruhe zu finden. Ein Nichts von Anlass streckt mich nieder, stürzt mich in einen Abgrund der Schwermut - wo ich mir schon mal wünschte, es käme jemand und schnürte mir die Kehle zu. Was für eine Erlösung müsste das für einige sein. Der freche Leidenberg - von erbostem Zeitungsleser erwürgt! Gäbe das nicht wenigstens eine nette Schlagzeile.
Alle Einsichten sind das Ergebnis einer leicht veränderten Kopfhaltung. Es genügt, den üblichen Blickwinkel um ein paar Grad zu verschieben, den eigenen Schädel in eine Schräglage zu versetzen, und schon kommt die gewohnte Wahrnehmung ins Kippen. Die Augen etwas zuzukneifen, und unser Tun und Streben, auch da wo es leicht tragische Züge annimmt, wird durch und durch komödiantisch.
Nein, ich werde das geplante Theaterstück definitiv auch für mich selbst nicht schreiben. Theater findet ohnehin nur in der Pause statt: Wenn die Blicke und die Abendroben knistern, Haut und Haar aufscheint, Lippen sich bewegen. Da betritt das Publikum die Bühne, mimt sich selbst, im Foyer des Theaterpalasts. Für eine knappe Viertelstunde fällt ihm in der Theaterpause gänzlich die Hauptrolle zu. Dann ab ins Dunkel, zurück in den Saal, die Vorstellung hebt nochmals an, und kurz darauf ist alles schon vorbei. Der Empfang zu Ende. Die kalten Strassen verschlucken die Lebenshungrigen, die einmal mehr wieder nur sich selbst überlassen bleiben, allein mit den ewigen Fragen, mit einem Glanz einer möglichen anderen Welt in den Augen, vielleicht, und einem Anflug Aufruhr in der Brust, ganz selten.

 


VI

 

Nach Einbruch der Nacht treten uns die Dinge entweder unwillkürlich näher, oder sie rücken starr von uns ab. Wortlos blicken die Strassenlaterne und die Fassade des gegenüberliegenden Häuserblocks mich durch das Fenster an.
Diese anderen Anrufe, die sich so deutlich von den Manifestationen der gesteuerten Volkswut unterschieden, hörten so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Pausenlos, wo ich auch hinging, zu Freunden, in ein Restaurant, unweigerlich war ich nach fünf Minuten an den Apparat gerufen worden. Die Stimmen hatten merkwürdig geklungen, die Morddrohungen viel konkreter als sonst. Die Kerle wussten ja auch stets genau, wo ich steckte. Wenn ich losfuhr, tauchte im Rückspiegel unfehlbar ein Wagen auf, der mir durch alle Strassen folgte und sich nur durch brüske Manöver abschütteln liess. Ich kam mir vor wie in einem billigen Film und versuchte, meine Spuren zu verwischen. Ich stieg auf Mietwagen um, wechselte sie verschiedentlich, mied meine Wohnung, tauchte in Hotels unter, es war nichts zu machen. Die Anrufe verfolgen mich überall hin. Es war zum Verrücktwerden. Ich durchsuchte alle meine Kleider, meinen Rasierapparat, meine Zahnbürste, die Knöpfe meines Mantels, die Absätze meiner Schuhe. Doch ich fand nichts, was nach einer Wanze aussah. Ich kleidete mich vollständig neu ein, ersetzte jeden einzelnen Gegenstand, behielt nichts von meinen persönlichen Sachen, ausser, nach genauester Prüfung, meinem Schlüsselbund, meinem Pass und meinem Fahrausweis. Ich zog mich fernab der grossen Städte an die entlegensten Orte zurück, es nützte alles nichts. Unfehlbar kamen die Anrufe, immer dieselben Stimmen. Auch mitten in der Nacht. Bekannte, zu denen ich mich hinflüchtete und die schon befürchteten, ich sei paranoid geworden, konnten mithören und sich davon überzeugen, dass es keine Einbildung war.
Seither lassen sie mich in Ruhe. Es hörte abrupt auf. Die Einschüchterung von störenden Journalistinnen und Journalisten gehörte ohne Zweifel zu den kriegsbegleitenden Massnahmen. Meine Hoffnung war, dieser Krieg liesse sich durch einen internationalen Aufruf, der von Intellektuellen aus der ganzen Welt unterzeichnet würde, stoppen. Naivität kann auch eine Kraft sein. Eine schwache Stimme zu haben ist kein Grund, sie nicht zu erheben. Selbst das Schnattern von Gänsen hat schon Schicksalsfragen entschieden.
Die Verdächtigungen waren böswillig. Wer den Waffennarren und -närrinnen ihre Fantasmen vorhält, wird beschuldigt, es seien in Tat und Wahrheit die eigenen. Zeitungen, die den Krieg befürworteten, behaupteten, der Wahnsinn, vor dem ich warne, spiele sich in Wirklichkeit in meinem Kopfe ab, ich verriete mit meinen Warnungen vor dem Schlimmsten eine krankhafte Fantasie, sei in Wirklichkeit ein potentieller Kriegstreiber, ein verhinderter Massenmörder, ein präpotenter Schreibtischgeneral.

Wer brauchte nicht... Ermunterung? Trost? Zuspruch? Ab und zu. Sei es auch nur fernmündlich. Wenn die Resignation sich wie eine schwarze Sonne ins Hirn einbrennt, der Selbstzweifel wie siedendes Öl durch die Adern rinnt.
Der Arm, der den Hörer auflegt, ist stets schwerer als der Arm, der ihn abnimmt. Aber wir haben ja noch das Radio. L-e-i-s-e M-u-s-i-k. Vielleicht sollte ich doch was notieren.
Wie sehr ich meine Kritiker und Kritikerinnen um ihre seelische Robustheit beneide. Ihre Selbstsicherheit. Ihre feste Stellung. Haben sich zu Nutz- und Haustieren zähmen lassen, für einen festen Platz am Futtertrog den Lockungen der Wildnis abgeschworen. Ihre alte Raubtiernatur bricht nur hervor, wenn sie gegen die vermeintlich wild Gebliebenen zur Jagd blasen und ihnen die Schrotkugeln ihrer Moral nachschiessen.

Beim Schreiben weiss ich selbst nie, wohin der Stoff mich führt. Mehr als einmal fand ich mich an Orten wieder, wo es kein Zurück mehr gab. Es gibt Augenblicke, die nehmen uns für immer gefangen, selbst wenn sie längst vergangen sind.
Komm mal ein bisschen näher, Schreibmaschine. Sonst rosten dir noch die Tasten ein. Nein, alles, nur nicht das Telefon, jetzt. Nein, nein.
Ich schreibe immer nur auf mechanischen Schreibmaschinen. An einen Computer setzen liess ich mich nie. Mein Verlag beschwörte mich vergebens. Er hätte mir sofort einen mitgegeben. Aber ich mag nicht. Meine Liebe zu den alten Schreibmaschinen lässt dies nicht zu. Ich kann nicht abtrünnig werden. Ich brauche das Klappern der Typen, die Unwiederbringlichkeit des niedergeschriebenen Gedankens, die Endgültigkeit der einmal gewählten Form. Auch wenn ich die Sätze überschreibe, streiche, nichts ist endgültig gelöscht, alles ist noch da. Der Schreibvorgang bleibt bis in alle Einzelheiten rekonstruierbar. Ich verändere ein Wort, ich komme darauf zurück, ich streiche den ganzen Satz, ich fische ihn wieder hervor, ich streiche einen ganzen Abschnitt, füge ihn später an einer anderen Stelle wieder ein. Eine Schreibmaschinenseite ist ein dreidimensionales Gebilde, eine Skulptur, mit Höhen und Tiefen, die Satzvarianten türmen sich zu einem wahren Gebirge auf, mit Tälern da, wo die Gedanken leichten Fusses vorwärtsschreiten, und Bergspitzen, wo die Luft dünn wird und die Sprache um Atem ringt. So was ist mit einem Computer nicht hinzukriegen. Jede Version abzuspeichern oder auszudrucken ist nicht dasselbe. Ich überblicke gerne alles auf einmal, ich schätze es, das Schlachtfeld des Denkens unaufgeräumt vor mir zu haben. Ich will einen Text in jedem Augenblick seines Entstehens in den Händen haben. Schreiben ist ein sinnlicher Vorgang. Sinnlichkeit duldet keine Trennscheiben. Meine Sätze im Innern einer Büchse aus Kunststoff und Glas wie in einem Gefängnis eingesperrt zu wissen, wäre mir unerträglich. Da geben wir laufend Buchstaben ein, und wenn der Apparat gutgelaunt ist, dann gibt er sie nach Ablauf einer gewissen Wartezeit gnädigst wieder frei - oder dann eben nicht! Ich will den Worten mit dem Finger nachfahren können, sie auf dem Papier einzeln spüren, ohne dazwischengeschaltete anonyme technische Potenzen. Wahrscheinlich ist das lächerlich. Ich schliesse nicht aus, dass die Schreibmaschine mir ein Spielzeug ist, von dem ich mich nicht trennen will. Wenn ich meiner Verlegerin und meinem Verleger ins Gesicht sage, dass ich Geschriebenem anmerke, ob es am Computer oder in der Schreibmaschine entstanden ist, lachen sie mich aus. Sie glauben, ich mache Witze, wenn ich sage, einem Text komme die Seele abhanden, wenn er wie in einem Mixer zerstückelt, algorhythmisch zu digitalen Signalen zerstampft und dann wieder aneinandergehängt wird. Wenn ich in den Verlag komme, weisen sie mich auf junge, aufstrebende Talente hin, die mit starrem Blick in die Röhre blicken, als sässen sie in einer Raumschiffkapsel. Sie genieren sich auch nicht, mir vor allen Leuten zu sagen: Du wärst viel produktiver mit so einem Ding! - Produktiver! Ja, das vielleicht schon, doch was hat Schreiben damit zu tun. Mit den mechanischen Maschinen geht ein ganzes Handwerk zugrunde. Allen, die schon immer etwas sammeln wollten, nur nie so genau wussten was, ich kann nur den Rat geben: Sammeln Sie alte mechanische Schreibmaschinen. Es gibt schon längst niemanden mehr, der sie baut. Eine Hermes Baby frühen Jahrgangs wird noch einmal mit Gold aufgewogen werden. Ich habe sie meistens dabei auf Reisen, sie ist leicht, angschmiegsam, hat wunderschön runde Formen. Meine Muse. Daneben gibt es natürlich die grossen, schweren Dinger, wahre Klapperstörche von mechanischen Schreibmaschinen, fast einen halben Zentner schwer. Sie kommen sich vor wie an einer Orgel. Tippen hat da noch etwas Weihevolles.

 


VII

 

Da wo die Dinge enden, tun sie meistens weh. Nichts markiert unsere Grenzen deutlicher als der Schmerz. Er ist die nachhaltigste Erinnerung, in der Menschen andere Menschen behalten können. Von manchen wurde schon gesagt, sie rannten sich den Schädel ein, dabei wurde ihnen dieser eingeschlagen.
In jener Nacht hatte alles aufgehört. Eine nachhaltigere Erinnerungsstütze als den Schmerz gibt es nicht. Wer würde auf scharfes Erkennen nicht gern verzichten, doch wenn Dinge enden, kennen sie selten Pardon. Nur noch dieses eine Schloss, dachte ich. Der verdammte Schlüssel. Wie dunkel es in der Wohnung war. Nur durch den Türspalt fiel ein Lichtschein herein. Was klirrte da, wo war mein Schlüsselbund. Und wogegen war ich da gestossen. Ach, fall doch um, wenn du willst. Nein, ich wollte nicht fluchen. Der Schalter. Licht. Der Strahl schnitt mir ins Hirn. Dann lieber im Dunkeln. Ich kann mich kaum noch bewegen. Vielleicht war es dumm, einfach wegzulaufen. Die Jacke, das Hemd. Dieser Scheissverband. Bin doch kein Pirat. Der stechende Schmerz. Die Pflaster viel zu straff gezogen. Du lieber Himmel, ich werde aussehen. Wie ein dem Grab Entstiegener.
Im Spital hatten sie mir gesagt, nun müsse ich eben selber schauen, wie ich zurechtkomme. Ich könne ja eine Hauspflege anfordern, aber das sei im Fall nicht gratis. Mir war schwindlig.
Dann mein Bett. Endlich. Aber zu liegen schnürte mir die Luft ab. Dass der Mensch Rippen hat, merkt er erst, wenn sie ihm gebrochen werden. Mein Arm, was sollte er mit diesem Gips. Wo war mein Mantel. Er lag unter mir. In der Seitentasche die Papiertüte voller bunter Medikamente. Wasser. Zu weit weg. Hier steht noch etwas kalter Kaffee. Runter, und noch einmal. Wenn sich die Seele benebelt, ärgert sich der Magen. Es allen recht zu machen geht nicht.
Ich weiss nicht, wer es war. Der Zufall sah einer Absicht zum Verwechseln ähnlich. Die Nächte in der Klinik waren grauenvoll. Ich träumte, ich würde in einer Menge erkannt und auf ein Schafott gezerrt, um enthauptet zu werden. Der Scharfrichter stand schon da, das Richtschwert in der Hand. Ich flüsterte ihm zu, dass es sich um einen Irrtum handle, auf freier Rede stehe keine Todesstrafe mehr. Das Volk schrie und verlangte meinen Kopf. Doch wider Erwarten hörte mir der Scharfrichter aufmerksam zu und liess sein Schwert sinken. Er begann zu lächeln und eine Träne lief ihm über das Gesicht. Sie war ganz dick und wirkte wie aufgeklebt. Dann legte er das Schwert ganz nieder und begann mir mit beiden Händen die Hand zu drücken. Er war gerührt. Da schwoll der Lärm der Masse ins Unermessliche an. Schon begannen die ersten, das Schafott zu stürmen, rissen mich nieder. Der Scharfrichter bemühte sich vergebens, sie daran zu hindern. Sie fielen über mich her wie eine Meute Hunde. Ihre Schreie weckten mich.
Vielleicht, haben sie mir gesagt, werde ich auf dem zerschlagenen Auge wieder sehen können, wird die Pupille aus ihrer Erstarrung erwachen, sich wieder öffnen und schliessen wollen, für das Licht dieser Welt. Vielleich hat sie auch genug von allem und verkriecht sich, macht den Laden dicht. Genug gesehen! Danke, bin bedient! Mir reicht's! Werdet ohne mich fertig, ihr wollt es ja nicht anders.
Verzweiflung ist ein sehr körperliches Gefühl. Einschlafen und nie mehr erwachen. Nur meine unförmige aufknöpfbare Pyjama-Jacke versagt mir den Dienst nicht. Da kann kommen was will, in ihr drin findet auch ein geschundener Leib noch Platz.
Ich hatte Angst, mich schlafen zu legen. Ich fürchtete mich, mitten in der Nacht aufzuwachen, weil die Medikamente nicht mehr wirken. Die Schläge alle erneut zu spüren. Das Gedächtnis des Körpers wird, einmal misshandelt, die Malträteure nicht mehr los. Sie sind in ihm drin, in jedem Muskel, jedem Knochen und greifen von innen her weiter an. Sie werden zu ständigen Begleitern, selbst wenn es gelingt, den Schmerz zu beseitigen, irgendwo im Dunkeln sind sie noch immer da, bereit, jeden Augenblick über einen zu kommen, und du hörst nicht auf, dich zu fragen, warum. Warum gerade ich. Wie konnten sie das tun, einfach immer weiter auf das wimmernde, wehrlose Stück Fleisch, das dein Körper ist, einzuhauen. Immerfort. Ohne Schonung, als wäre dies kein lebendiges Wesen, kein Rücken, der einen durchs Leben trägt, kein Kopf, den wir einst gerade hielten. Der Gedanke lässt einen nicht mehr los: Was geht in Menschen vor, die mit Schuhen auf ein am Boden liegendes Gesicht einhauen können, welche Gewalt hat sie um alles in der Welt dazu gebracht, Schädelknochen und Augen zu treten. Ich verstehe nicht, wie Leute nach Plan, im Auftrag oder auch nur mal so, ganz spontan, töten oder prügeln können. Ich will's auch gar nicht wissen, wenigstens jetzt nicht. Verstehen tut zu weh, manchmal. Braucht Kraft, die zu oft fehlt.
Mein Schädel ging nicht entzwei. Ein Glück. Doch ein Sturm hat ihn erfasst. Damit hatte er nicht gerechnet. In ihm fühlt es sich an wie in einer ausgesteinten Pflaume. Ein Wunder dass es überhaupt noch denkt darin. Das über die Ereignisse doch etwas erschütterte Gehirn versucht sich auf das ihm Zugestossene einen Reim zu machen, doch es will kein Versmass so richtig passen, nichts, das schön und rund und überzeugend klänge - die Erklärungen hinken, wirken wie noch nicht sauber ausgebeult, schlecht und recht zusammengeflickt, drehen sich im Kreise, sind blind für Betrachtungen, die eine gewisse Tiefe erfordern würden, stürzen dauernd ab, in das zu Denkende hinein, klatschen benommen, entblösst, auf immer demselben nächtlichen Asphalt auf, um die Überzeugungen betrogen, jedes festen Grundes beraubt. Was noch einen Halt verspricht, rutscht im nächsten Augenblick schon weg, gibt nach, fällt ins Bodenlose.
Sehnsucht nach dem Nichts. Nichts mehr. Nur nie mehr dies. Kein Körper mehr sein zu müssen. Den Lärm, das Dröhnen in den Ohren, die Geräusche, die die Angst begleiten, nicht mehr zu hören. Im Dunkeln diese Szene nicht stets von neuem wiederzusehen. Nur dieser eine Wunsch. In der Stille verloren gehen. Unauffindbar sein in ununterbrochenem Schlaf. Ich bin ein Untoter, der ruhelos weiterlebt. Mir selbst und allen anderen eine Qual.

Nur noch die Lichter zu löschen, dachte ich in jener ersten Nacht wieder in meinem Bett. Oder soll ich sie brennen lassen? Eines wenigstens. Wie das ewige Lichtlein.
Ich habe noch nie jemanden umbringen wollen. Aber als sie mich niederrissen und ihre Zerstörungsarbeit begannen, fühlte ich auch in mir diesen Hass, der töten kann. Ich muss es zugeben. Ich habe ich diesen Drang verspürt. Der Mordblick stand auch mir in den Augen, bevor die Schmerzen unerträglich wurden. Ich war keinen Dreck besser als sie. Jede Erniedrigung weckt Rachegelüste. Es war herabwürdigend, auf dem Pflaster zu liegen. Entsetzlich das Würgen im Hals, die Tritte gegen die Schläfen, die unablässigen Schläge. Sich selbst schreien zu hören. Der Blitz, der mein Auge durchzuckte. Nein, nicht mein Auge, dachte ich. Ich weiss nicht, ob ich die Besinnung verlor. Aber das letzte, das ich dachte, bevor etwas in mir aussetzte und meine Erinnerungsfähigkeit löschte, war, dass ich tatsächlich für einen kurzen Moment soweit gewesen war, vor Schmerz, Wut und Zorn töten, mich selbst gänzlich vergessen zu können, wäre mir nur eine Waffe gegeben worden. Darüber bin ich erschrocken, und das schockiert mich noch jetzt am meisten. Nein, ich bin in meinem Wesen nicht anders, als jene, die mich zu Boden schlugen. Die Kunst, keinen Hass zu empfinden, den Impuls zur Gewalt in sich aufzulösen, beherrschte auch ich nicht in diesem entscheidenden Moment. Darin liegt das Demütigende von Gewalt: dass sie uns zu etwas macht, das wir nie sein wollten, nie hätten zu sein brauchen.
Die Menschheit hat zu lange in Höhlen gelebt. Unser Hirn leidet an unheilbarer geistiger Beklemmung. Die Neigung, die Schwierigkeiten, die wir haben, als Probleme, die andere uns machen, anzusehen, scheint unbezwingbar. Wegen dir, wegen denen da! So ein Mist. Deine Schuld, deren Schuld! Der alte Traum, den Weltenlauf im Zweikampf zu bestimmen. Personifizierung erlaubt die frontale Fixierung der bitteren Gefühle. Die angeblich schuldige Person soll tot umfallen: das ist der erste Wunsch unserer Psyche, wenn immer uns das Leben zu schwer wird. Es ist grässlich.

 


VIII

 

Wer beim tief Luftholen seine Rippen spürt, hat Mühe, Erhebendes und Erhabenes zu denken. Mein Auge, das zerschundene, hat gerettet werden können. Wenn ich durch es hindurch blicke, zittert es noch, ist nur etwas scheu geworden. Es hat noch etwas Mühe, dem neuen Tag zuzulächeln. Ich ordne alte Manuskripte.
Die beste Gesellschaftsordnung ist jene, an die sich eine Bevölkerung gewöhnt hat, die Schlafenden ja nicht wecken, selig diejenigen, die kein Gedächtnis haben. Vergessen können ist die wichtigste Vorbedingung zum Glück. Wo es die Leute nicht merken, dass sie an der Nase herumgeführt werden, da gibt es keinen Streit. Der Schlummer der Intellektuellen beschert dem Land den Frieden. Dann und wann wird der Schleier, der über den Dingen liegt, gelüftet. Natürlich ohne irgendwessen Zutun. Die Weisheit der Staatsorganisation regelt alles von allein. Die Zukunft kommt nie so, wie wir es denken, und selten pünktlich. Wer ungeduldig wird, ist selbst Schuld.
Die hohen und höchsten Staatsgeschäfte vollziehen sich in sehr dünner Luft. Damit es der Bevölkerung nicht den Atem verschlägt, vereinbaren die Herrschenden immer wieder rücksichtsvoll Stillschweigen. Es herrscht das Gesetz der durch die Sache selbst gebotenen Vertraulichkeit.
Wir ahnungslosen, gutgläubigen Zeitgenossinnen und -genossen vermögen kaum je abzuschätzen, was uns alles verborgen bleibt. Ich habe oft mit einflussreichen Persönlichkeiten zu tun, die sagen mir in eiskaltem Ton: Das beste Archiv ist ein abgebranntes Archiv - da kann wühlen wer will. Wie viele Politikgewaltige gibt es nicht, die der Versuchung erliegen, für ihre lieben Mitmenschen heimlich die Schicksalsfäden zu ziehen. Ich weiss nicht, was schlimmer ist: wenn auf Staatsebene eine Sache schiefgeht oder aber gelingt. Die Verantwortung und Haftung übernehmen auf jeden Fall immer die andern.
Und was ist denn das? Nun, da manches plötzlich an den Tag kommt, bekomme ich neben Beschimpfungen auch plötzlich liebe Briefe, Ehrungen. Wie diese hier. Selbstverständlich verwirren mich diese öffentlichen Bekundungen des Interesses für meine Person. Ich mag Preise, nur weiss ich noch nicht recht, wen Sie in mir ehren. Es ist immer noch sehr still in diesem Land, und es wird noch geraume Zeit dauern, bis hinter jenen, die jetzt selber stiller werden, weil sie sich unsäglich kompromittierten, jene sich wieder zu Wort melden, die zum Schweigen verurteilt worden waren. Bei uns geht es friedlich zu, ich weiss. Wir können es uns bequem machen. Die armseligen Geheimdienste, die sich aus Langeweile auch schon mal an die Schubladen der eigenen Bevölkerung halten, geben sich plötzlich bedeckt. Gedanken sind bei uns zur Zeit kein tödlicher Besitz, bloss ein persönliches Ungeschick, und ihr Austausch kein Wettlauf mit dem Tod, sondern höchstens ein Vergnügen mit geringem Unterhaltungswert. Denn wir haben ein feines Ohr für Dinge, die nicht gut klingen. Und Menschen, die anderswo der Anstiftung zur Unruhe wegen eingesperrt werden, nur weil sie über Verhältnisse und Vorkommnisse schreiben, die ihnen die Ruhe rauben, können uns schliesslich nicht das ganze Jahr durch leid tun. Wozu haben wir Gedenktage. Wir brauchen ja unsere Zeitungsartikel nicht in kugelsicheren Westen zu schreiben. Wir sind schon froh, wenn sie überhaupt noch gelesen werden. Uns schlägt keine brennende Neugierde entgegen, wenn wir am falschen Ort zur falschen Zeit das Richtige schreiben. Uns droht nur die Öde des lautlosen Verzweifelns inmitten des hingeplapperten Lärms.

 


IX

 

Gelegentlich kam ich ins Leiern. Es gibt einen Moment der lärmenden Müdigkeit, wo sich die Kunst aus dem Staub macht. Den spürte ich nicht immer. Sich-Wiederlesen. Ich kann meine Briefe nicht mehr ansehen. Rein in die Kiste. Wie ein Film schnurrt das Leben vor den Augen vorbei. Garantiert werbefrei und endlich ohne Unterbrechung.

Die kleinen Geschichten zählen oft mehr als die grossen. Die verlorenen Mosaiksteinchen zu suchen, die erst das grössere Bild ergeben, hielt ich für meine Aufgabe. Doch ich hätte früher wissen müssen, worauf ich mich einliess. Das, wonach wir ein Leben lang suchen müssen, kann uns nur noch mit dem Tod belohnen.
Noch so ein uralter Text. Ich beharre auf dem Realitätsbegriff. Tatsachen sind grundsätzlich erkennbar und können und müssen kenntlich gemacht werden. Es ist zwar immer möglich, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass alles Anschein ist und unsere Wirklichkeit nur eine Vorstellung. Doch auch dort, wo nur der blosse Schein herrscht, gibt es Zonen, die wirklicher, verlässlicher sind als andere, und die Regelmässigkeiten erkennen lassen, so schwer fassbar diese auch immer sein mögen. Ob wir uns also in einem Spiegelkabinett des Scheins oder der harten Wirklichkeit bewegen, läuft auf dasselbe hinaus. Wir setzen vorsichtig einen Fuss vor den anderen und achten darauf, mit der Nase nirgends anzustossen. Wissen heisst, sich nicht täuschen zu lassen. Wahrheit ist stimmiges Wissen. Was immer wir davon zu Gesicht bekommen, existiert in dem Sinn für uns wirklich.
Nur bloss schnell abschliessen. Raus aus diesem Staub. Mappen zu. Schnur drum. Zurück zum Übrigen. Es ist absurd, ich verspüre genau dieselben Empfindungen wie meine Gegner und Gegnerinnen früher: Ich will nur noch eins, meine Ruhe haben. Zu Hilfe.

 


X

 

Es klingelt. Wer wohl jetzt wieder vor der Türe steht. Nein, der wohnt nicht mehr da. Tut mir leid. Nein, ich bin sein Vetter. So, sehe ich ihm ähnlich? Wie der kranke Bruder? Was Sie nicht sagen. War nett, Sie kennen zu lernen. Ob die Wohnung frei wird? Ja doch, denke ich schon. Kommen Sie doch wieder, wenn die Gardinen abgenommen worden sind. Es hat gar keine Gardinen? Da haben Sie recht. Muss er wohl vergessen haben, welche aufzuhängen. War ein wunderlicher Mensch, mein Vetter. Nein, nein. Es geht ihm gut. Er ist verreist. An einen schöneren Ort. Ja, es gibt viele schönere Orte auf der Welt. Weiss der Geier, was ihn ausgerechnet hier festhielt. Wohl so eine Art unerfindliche Treue zu seinen Ursprüngen. Kann einen teuer zu stehen kommen, die Liebe zu einem Flecken Land. Was sagen Sie? Na, dann gehen Sie mal besser wieder. Werde ich ihm ausrichten, wenn ich ihn wiedersehe.
Die Leute verlieren alle Hemmungen. Was die sich nicht alles herausnehmen.
In der Wohnung ist es schon dunkel. Nur meine Strassenlampe draussen wirft ihr bleiches Licht herein. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, was ich getan habe, bevor dieser Kerl klingelte.
Wer bin ich, wen kennen jene, die mich zu kennen glauben? Einen anderen als den, der ich selbst zu sein vermute? Jeder Mensch ist sich persönlich eine Kunstfigur. Im Wechsel der Stilrichtungen sind wir verurteilt, uns stets neu zu erfinden. Wir tun das, so gut es geht, und es geht, solange es gut geht, aber es geht nicht immer gut aus, das Leben.

Ohne es zu wollen, stelle ich mir das Erdrosseltwerden noch als die angenehmste Form des Todes vor: der Würgegriff der Liebe. Wenigstens das: aus Liebe zu sterben. Nicht durch eine kalte, uns fernstehende Hand. Liebende, die sich streiten, provozieren sich gegenseitig bis zum Punkt, wo sie sich am liebsten erwürgen würden: Wenn ich mein Handeln davon abhängig mache, wie du handeltst, und du deinerseits dein Handeln an meines bindest, und ich das von dir weiss und du von mir, wird plötzlich alles möglich, auch die Liebe hin zum Tode. Sich totlieben. Ich und du, wir haben uns an dieser Welt zu Tode geliebt, uns vor Liebeswahnsinn in Stücke hauen lassen.

Immer häufiger verfalle ich auch mir gegenüber in Schweigen. Nicht einmal mehr mit sich selbst zu reden ist kein besonders gutes Zeichen.

Wie gut die Unbeteiligten mit ihrem Desinteresse leben.

Ich weiss nicht, wie ich da hineingekommen bin. Das sagen wir in jeder auswegslosen Lebenslage. Kaum sind wir aber der Bedrängnis entronnen, leben wir im Glück der wiedergefundenen Freiheit unbesonnener als je zuvor. Selbst wenn die Kulissen ein um das andere Mal über uns zusammenbrechen, bringen wir es fertig, dieselben lieben Fehler immer wieder von neuem zu begehen, bis uns plötzlich eines schönen Tages die Kraft fehlt, nochmals aufzustehen. Wir einfach liegen bleiben.
In der Ausweglosigkeit sind wir gnadenlos der eigenen Laune und der Stimmung anderer ausgeliefert. Ein Blick, eine Geste können da plötzlich schon über das Weiterleben entscheiden. Der Tod ist jenen, die sich selbst umbringen, zunächst nicht mehr als ein zufälliger Gedanke. Er zeigt weitab den Notausgang aus einem verfahrenen Leben. Wie die alten Seefahrer im Sturm streichen wir die Segel, überlassen uns dem wilden Tanz der Wellen und der Strömung, die uns fortreissen, und hören ganz banal auf zu kämpfen. Denken, wir haben genug getan. Genug von uns gegeben. Das Menschenmögliche eben. Dass es jetzt reicht. Natürlich ist das Schwäche. Sicher, solange wir noch so denken, so lange können wir auch weiterkämpfen. Könnten es. Doch aus Gekränktheit machen wir nicht länger mit. Lieber rollen wir uns zusammen. Um uns zu schützen, flüchten wir uns in den langweiligen ewigen Schlaf.
Du Schale, harte! Nuss, du weiche! Wo steckt in dir, Mensch, was du das Innerste nennst? Der Kern? Könnte ich doch an die Seele glauben, an meine. An die aller. Käme mir zwar reichlich seltsam vor, mich als Engelchen vorzufinden. Ein geflügeltes, rosafarben-pausbäckiges. Wie ein Amor, mit Pfeil und Bogen die Menschen zu umschwirren, nichts anderes zu tun zu haben, als sie zur Brunst zu bringen. Die meisten Jenseitstheorien sind elender Kitsch. Ebenso unwürdig wie die gleichklingenden Lehren über das Diesseits. Je billiger der Trost, umso teurer bezahlen wir ihn.

Da müssen doch irgendwo noch ein paar Bogen loses Blatt Papier liegen, auf denen keine Kaffeeflecken sind. Sag ich doch. Na dann los.
I-c-h b-i-n k-e-i-n H-e-l-d. Auch ich habe Angst vor dem Sterben. Es war ein peinvolles Unternehmen, meinen Nachlass säuberlich zu ordnen. Doch gewisse Dinge muss jeder Mensch selber tun, die kann ihm niemand abnehmen.
Ich weiss nicht, ob ich mich für meine Verzweiflung schäme. Er hätte noch viele Schreibjahre vor sich gehabt, werden die Ahnungslosen sagen, die nicht begreifen, dass ich stets alles gegeben habe. Aussagen messen sich nicht an ihrer Länge, Bücher nicht an ihrer Dicke, Werke nicht in Metern. Ich wüsste nicht, wie dieses Leben fortzusetzen wäre. Ich tat nur so, als ob ich immer wieder auf die Beine gefallen wäre, aus allen Abenteuern ohne Schaden hervorgangen bin. In Wirklichkeit hält mich nur der äussere Rahmen meiner Existenz auf den Beinen, wie bei einem alten Krieger, der, kurz bevor er umkippt, gerade noch von seiner Ritterrüstung aufrecht gehalten wird.
Morgens, wenn ich mich im Spiegel sehe und den ersten obligaten Schrecken überwinde, halte ich Zwiesprache mit einem mir fremd geworden und immer fremder werdenden Gesicht. Mein Körper sagt sich von mir los, blättert ab wie eine Hülle, die ihrer Aufgabe überdrüssig ist. Und darunter wächst nichts Neues, Frisches nach. Ich bewege mich wie eine ambulante Leiche, dorre bei lebendigem Leibe aus. Nur ein Schimmer in meinen Augen erinnert an frühere Tage. Mich noch einmal aus meiner Haut schälen können, feucht und glitzrig, wie im Morgentau ganz im Saft zu stehen, dafür gäbe ich alles. Doch was habe ich überhaupt noch zu geben? Ich schiebe mir die Haarsträhnen, die mir geblieben sind, aus der Stirn. Eine Antwort habe ich nicht. Und schlucke stattdessen etwas gegen den verzehrenden Schmerz. So geht es weiter, jeden Morgen. Ex und hopp, noch einmal einen Tag.
Ein Mensch ist ein zerbrechliches Gebilde. Ein harter Schlag, und schon klirrt's, ist das Herz in Scherben. Ich bin unansehnlich geworden, tauge nicht mehr für das Spiel der Flirts und der Liebe, hab im Grunde nichts mehr zu sagen, kann niemandem mehr schöne Augen machen. Mein Bett ist leer, ein Ort nur noch für abgrundtiefes Träumen, jähes Erwachen, stechende Erinnerungen. Seele und Leib verwüstet, ausgetrocknet, bringen nicht einmal mehr Tränen hervor. Ein Sack voll Staub und Knochen. Wo Menschen hart hintreten, wächst nichts mehr.
Möglicherweise war mein Leben, insgesamt gesehen, nicht vergebens. Das will ich doch schwer hoffen. Gemessen am Ärger, den ich hervorrief, war ich vielleicht sogar ausgesprochen tüchtig. Ich wurde wenigstens gelesen, auch von denen, die mich hassten. Das war mein Talent, ich liebte, indem ich schrieb, vielleicht gerade da am meisten, wo ich spottete und haderte. Vermutlich haben die Leute das gespürt. Unverbindlich blieb ich nie. Ich habe dafür bezahlt.
Wer sich preisgibt, der setzt sich Anfeindungen aus. Wer glücklich leben will, der verstecke sein Leben. Das war die Duckmäuser- und -mäuserinnenphilosophie aller schlechten Zeiten. Je schlimmer der Zustand der Gesellschaft, desto geringer die Kraft zur Utopie. Das Leiden an sich selbst und an den andern wird zum Privatkapital erklärt. Die Zinsen sind eine Abschlagszahlung an den Tod.
Nein, es wäre ein Fehler zu glauben, sich umzubringen sei das Eingeständnis irgendwelcher Fehler, gar Irrtümer. Suizid ist kein Verstoss gegen das Gesetz, dass kein Mensch mit dem Tod zu strafen sei. Epikur sagte es so: Die grössten Schmerzen finden ihr Ende mit dem Tod, die kleinen bieten viele Zwischenräume der Ruhe, und die mittleren kontrollieren wir in dem Sinn, dass wir sie aushalten, wenn sie erträglich sind, wenn aber nicht, dadurch, dass wir mit Gleichmut aus dem Leben weggehen wie aus einem Theaterstück, das uns nicht mehr gefällt. Aristoteles sagte einmal: Wer Empfindungsvermögen besitzt, hat einen Sinn für Lust und Schmerz, das Angenehme und das Unangenehme. Danach richtet sich unser Appetit. Was Lust bereitet, das bejahen wir, und was schmerzt, das weisen wir zurück. Diesem Gesetz gehorchen unsere Seelenbewegungen. Je nachdem, ob uns etwas anzieht oder abstösst, laufen wir ihm nach oder gehen ihm aus dem Weg.
Wer seinem Leben ein Ende setzt, spricht kein Urteil über sich und auch keines über die anderen. Auch nicht über das Leben selbst. Das war nämlich ganz nett und freundlich. Das Leben kann nichts für die gelegentliche Abgeschmacktheit der Menschen.
Sicherlich, es gibt mehr gute Gründe weiterzuleben, als zu sterben. Die Hoffnung keimt überall, wenn Tränen sie benetzen. Epikur meinte, es sei lächerlich, aus Ekel vor dem Leben dem Tod um den Hals zu fallen. Es glaube niemand, ich hätte nicht darüber nachgedacht. Sich umzubringen bleibt eine abgeschmackte Geste. Es ist sehr schwierig, dies auf ästhetische Weise zu erledigen. Wohl oder übel wird der Feinsinn der Überlebenden verletzt. Doch im Vertrauen: Wer genug hat, denkt nicht mehr daran, unbedingt zu gefallen. Ohne Mut zur Lächerlichkeit geht's nicht. In einer Stadt, die ich gut kenne, bestellte eine Frau ein Taxi. Mit einem Hocker oder Tabouret unter dem Arm stieg sie ein und liess sich zur höchsten Brücke führen. Da befahl sie anzuhalten, zahlte, stellte den Hocker vors Geländer... und weg war sie. Wenn sie am Steuer des Taxis gewesen wären, wie hätten Sie sich verhalten? Die Brücke war als Selbstmörderbrücke bekannt. Wie hätten Sie die Frau angesehen beim Einkassieren des Fahrpreises?
Es gibt Leute, die erwachen mitten in der Nacht und bitten ihren Lebenspartner um den Gefallen, sie mit einem Kopfkissen zu ersticken. Sie halten die Einsamkeit, die seelische Kälte, den Schmerz nicht mehr aus. Wie würden Sie reagieren? Vor Gericht gäbe das zur Verteidigung nicht viel her. Es ist zu offensichtlich, dass die Leute, wenn sie so etwas verlangen, genau das Gegenteil davon wünschen. Wir schreien auch noch als Erwachsene unbeholfen nach Lust und Liebe. Und mit zunehmendem Alter der Schreihälse wird es immer schwerer, sie an unser Herz zu drücken. Nur wer ist schon gänzlich schuldlos, wenn andere Schmerz empfinden? In der Antike stellten die Intellektuellen mit grosser Leidenschaft Theorien darüber auf, wie Glück und Schmerz zusammenhängen. Sie stellten eigentliche Formeln auf: Wo Lust herrscht und solange Lust anhält, da ist kein Leiden und kein Kummer. Glück ist Überwindung von Schmerz.
Wer Bilanz zieht, weiss, es gibt Tage, die vergessen wir lieber rasch, auch ganze Wochen, Abschnitte eines Lebens. Es geht verflucht schnell und schon sind wir unansehnliche, blasse Tote, jedes Gramm Fleisch, das an uns hängt, ist dann zuviel, nutzlos jeder Quadratzentimeter einst geküsster Haut, das Haar, die Wimpern der Augen. Zwar gibt es noch immer die Freundschaft und stille Formen des Glück. Da aber, wo uns der Schmerz keinen Ausweg mehr lässt, kann der Tod nicht schrecklicher als das Leben sein.
Endlich Frieden, keine Rechenschaft mehr schuldig, weder sich noch anderen. Den Stecker ausgezogen. Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer. Keine bevorstehenden Katastrophen mehr. Alles feierlich hinter uns. Die verdammte Pflicht getan. Soll noch jemand meckern. Ende der Vorstellung. Vorhang. Guten Abend, es war nicht immer eine reine Freude, hat mir eigentlich wehgetan, hätte so nicht zu kommen brauchen. Aber eben, wie das Leben so spielt, die Zeit kennt kein Erbarmen. Mir und Ihnen fehlte das Talent für ein fröhliches Finale. Die Geschichte ist aus, Sie sind entlassen, dürfen noch einmal ruhig nach Hause gehen. Salut und geschwisterlicher Kuss. Gedenkt des öffentlichen Ärgernisses Nicolas Leidenberg. PS: Kränze und andere Grabesgaben könnt Ihr Euch an den Hut stecken. - Ja, ich bin nachtragend. Dumm, nicht? Aber ihr habt nicht begriffen, dass ich nichts Besonderes, sondern nur immer einer von euch war, und ihr ein Teil von mir selbst. Ihr könnt mich jetzt gern haben! Ich brauche euch nicht mehr.

Es wäre so einfach, wenn jetzt die Tür aufginge, geräuschlos sozusagen. Wenn die Sache nicht noch länger meinem Belieben überlassen bliebe. Ein leichter Luftzug nur kündigte den Schatten an, der hinter mir gefriert. Die Entscheidungen, wo es denn je welche gab, wären längst gefallen. Gevatter Tod oder, wer weiss, eine wohltemperierte Todesbegleiterin, seine Kusine. Willkommen. Ein letztes Schwätzchen noch.
Anbieten kann ich Ihnen ja wohl nichts? Oder doch? Etwas Wärmendes gefälligst? Einen letzten Schluck? Ich hätte da eine Flasche, die ist noch voll. Nicht? Verstehe. Ablegen mögen Sie vermutlich auch nicht. Sie könnten sich womöglich noch den Schnupfen holen, wenn Ihr wertes Gerippe sich der Zugluft aussetzt. Und aufstehen, um die Wohnungstüre hinter Ihnen zu schliessen, lassen Sie mich wahrscheinlich ebenfalls nicht, aus Angst, ich würde sonst einfach abhauen und die günstige Gelegenheit ergreifen: Mich in lieblichere Gefilde davonmachen. In Ordnung. Ich bleibe also sitzen. Ich kehre mich auch nicht um. Ich weiss, was sich gebührt. Bringen wir's hinter uns. Sie sind so freundlich, mir Gesellschaft zu leisten. Zu zweit fällt alles leichter, auch die Verrichtung der letzten Dinge. Komfortabel. Allein zu verrecken ist ja wirklich das Allerletzte. Keine Hand, die einem noch einmal über die Stirn fährt, zum Trost, vielleicht, oder zumindest mit abgespreiztem Arm auf die Schläfe oder die Herzgegend zielt. Eine gefühlslose Hand, gewiss, aber immerhin: eine ausgestreckte Hand. Eine Totenhand, die auf ewig bindet. Ich bezweifle zwar, dass ich bin, was Sie in mir sehen. Aber was tut das schon. Machen Sie also vorwärts, wenn Sie sich schon eigens zu mir bemüht haben. Über mangelnde Anhänglichkeit werde ich mich nicht beklagen. Bereit? Noch eine Unterschrift? Nicht nötig? Na dann legen Sie mal los. Wollen keine Zeit verlieren. Auszuhandeln gibt es ja ohnehin nichts mehr, wenn ich nicht irre. Die Positionen sind bezogen. Die Kommentare stehen fest.
Ach ich armes Schwein. Wird's bald? H-a-l-l-o?

 

 


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