5. September 1998, Magazin der Basler Zeitung (Nr. 34)  [Hier klicken für die Zeitungsausgabe des Textes]


Ach, die Schweiz…
Über die hiesige Anfälligkeit des Denkens für Fiktionen
Von Peter Kamber

Von der Gegenwart bis ins Mittelalter: Beim nebenstehenden Beitrag handelt sich um Auszüge aus dem neuen Buch von Peter Kamber, das noch im September im Arche Verlag erscheint («Ach, die Schweiz... Über einen Kleinstaat in Erklärungsnöten»). Kamber, der von seiner Ausbildung her Historiker ist, aber auch Prosa schreibt, verfolgt darin Fiktionen der Schweiz von der Gegenwart bis ins Mittelalter.

Dichter und Politische Polizei

Berge vermitteln von weitem den Eindruck einer Welt aus Watte, weich, abgefedert, nicht real. An gewissen klaren Tagen gleicht die Schweiz einem riesigen, luftigen Schlafzimmer, einem entrückten Ort des Scheins. Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen schläft Helvetia wie Schneewittchen ­ auf weichen Kissen, aber betäubt. Ein Stück goldener Apfel ist ihr im Hals steckengeblieben. Noch kann sie sich, hustend und nach Atem ringend, von dem Kloss befreien, wenn sie Glück hat. Wer die Vergangenheit von sich abzuspalten versucht, erlebt sie als Alptraum wieder. Die schöne junge Frau und die böse eitle Mutter im Märchen sind in der Wirklichkeit ein und dieselbe Person und haben eine lange Familiengeschichte. Die Schweiz ist ein kleines Land, und als kleines Land kommt sie sich ­ kritisiert ­ immer als Opfer vor. Als Opfer eines hinterhältigen Angriffs, ausgestreckt am Boden des gläsernen Tresors, ausgeraubt, sieht sie sich liegen. In seiner gan-zen Geschichte stellte das Land sich selbst noch nie als tätig in ein Verbrechen verwickelt vor. Für den Umgang mit Verfehlungen fehlen schlicht die Denkkategorien. Was immer das Land tat oder unterliess, es schien dafür genügend Gründe zu geben. Mit unschuldigem, unbeflecktem Herzen glaubt die Schweiz, jedes Gramm Gold redlich und mit Fleiss verdient zu haben. Naivität führt durchs halbe Leben, aber nicht durch das ganze.

Befragt zur «Schweizer Eigenart» erzählte der zweiundzwanzigjährige Max Frisch im Oktober 1933 in der «Zürcher Illustrierten» von dem Gefühl, das er auf seiner ersten Reise ins «Ausland» hatte, als er an einer Industriemesse die Fahnen aller Länder flattern sah, während «ausgerechnet meine geliebte Schweizerflagge verwurstelt hing». Auf das ständige Pendeln der Schweizerinnen und Schweizer «zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitsangst» anspielend, bekannte er ­ mit der ihm eigenen Ironie: «Und ich betete zum Wind, damit er mein stolzes Kreuz entfalte im fremden Himmel und mich erlöse aus unserer angeborenen Pein (...).» Als «ulkigste» Eigenart der Schweizer Bevölkerung bezeichnete Frisch, dass sie sich «grössenwahnsinnig» viel «auf ihre Bescheidenheit» einbilde. Der junge Max Frisch, der noch nicht angefangen hatte, Architektur zu studieren, sondern sich nach einem abgebrochenen Germanistikstudium als Journalist und Reiseschriftsteller durchs Leben schlug, machte in den anderen Ländern ­ wie bis vor kurzem anscheinend viele Schweizerinnen und Schweizer ­ die Erfahrung: «Man hat uns gern.» Mit der lustvollen Strenge, die ihn kennzeichnete, fragte er sich aber umgehend, «weswegen man uns überall gern hat». Seine Antwort bestand wiederum in einer Geschichte, der Geschichte vom «Matterhorn»: «Denn wie ich mich einmal vorstellte als Schweizer, erstrahlten die Ausländer und begannen zu schwärmen vom Matterhorn, worauf ich befriedigt nickte, als hätten wir das Matterhorn selbst gebaut, und durchaus nicht merkte, dass man weniger uns als vielmehr unsere Landschaft liebt, woran sie erinnert wurden durch mein Erscheinen.»

Das bekannteste Bild von Frisch zeigt ihn mit Bertolt Brecht auf dem Zehnmeterturm des Zürcher Schwimmbades Letzigrund. Wer dort je in Badehosen gestanden hat, weiss, dass es hoch ist dort oben. Die beiden lächeln. Das Bad, Frischs grosser architektonischer Wurf, ist noch nicht fertig, und runter geht’s, nicht im Bild, wieder auf der metallenen Leiter. Geknipst hat Ruth Berlau.

Vielleicht hat Frisch Brecht erzählt, dass die leichte Erhöhung, auf die er den polygonen kleinen Erfrischungskiosk des Bades setzte, im alten undemokratischen Zürich noch als Hinrichtungsstätte diente. Dort, weit ausserhalb der Stadtmauern, baumelten die Gehängten, weithin sichtbar für alle Reisenden, die sich auf der nahen Hauptverkehrsstrasse von Basel her der gestrengen Stadt näherten. In seinem Tagebuch erwähnte Frisch 1947 erschreckt über seine Arbeiter: «Nun haben sie doch einen gefunden! ­ Skelett eines Hingerichteten (…).»

Zu den Gesprächen mit Brecht notierte er etwas später: «Die Faszination, die Brecht immer wieder hat, schreibe ich vor allem dem Umstand zu, dass hier ein Leben wirklich vom Denken aus gelebt wird.» Und Frisch fügte hinzu: «Während unser Denken meistens nur eine nachträgliche Rechtfertigung ist (…).»

Ohne Einladung mit zugegen waren bei Brecht immer auch die Beamten der Zürcher Politischen Polizei. Kein Staat ist gegen Lächerlichkeit gefeit, vor allem dann nicht, wenn diese System hat. Als Bertolt Brecht nach dem Krieg in das Land kam, das sich mit der Uraufführung seiner Stücke rühmen durfte, hintertrieb die Schweizerische Bundesanwaltschaft nicht nur alle Versuche des staatenlosen Theatermanns, sich in dieser Schweiz niederzulassen, sondern unterzog ihn auch einem ausgedehnten Lausch-angriff. Brecht war am 5. November 1947, von New York kommend, über Paris in die Schweiz eingereist, um sich nach einem ersten unerspriesslichen Verhör in Washington vor dem Komitee für Unamerikanische Aktivitäten dem drohenden Zugriff des Senators Joseph McCarthy zu entziehen. Doch auch die Schweiz gab sich in Staatsschutzdingen paranoid: «Brecht (…), Schriftsteller, staatenlos, früher Deutscher, (…) soll kommunistisch eingestellt sein. Er erhält viel Besuche, zeitweise bis zu 5 Personen», heisst es in einem Polizeibericht vom 28. August 1948. Unterkunft hatte er über Freunde am Zürichsee, in der Gemeinde Feldmeilen, gefunden, in einer Estrichwohnung. Unter ihm, im ersten Stock, wohnte Dr. R., ein Rechtsanwalt, der bei der Schweizerischen Bankgesellschaft, der heutigen UBS, arbeitete: «Dr. R. dürfte politisch einwandfrei sein. Wenigstens ist hier nichts bekannt. (…) Sofern R. Dr. iur. einwandfrei wäre, dürfte event. bei ihm ein Horchgerät installiert werden. Wie ich noch erfahren konnte, steht der Familie R. noch ein Zimmer neben der Wohnung Brecht zur Verfügung, das wenig benützt werden soll», meldete der Mann von der Polizeistation 1 Meilen, der ohne jeden Witz mit Korporal Scherz zeichnete. Der Bericht an den «Nachrichtendienst» der Zürcher Kantonspolizei trug den Vermerk «Verdächtige Versammlungen (…) und event. Schwarzsenden».

Wie ein Inspektor von der Schweizerischen Bundespolizei am 7. September 1948 festhielt, kämen in der Wohnung des Bert Brecht «öfters unbekannte Personen zusammen»: «Es seien dann jeweils Geräusche feststellbar, die von einer Sendeanlage herrühren könnten. In der Nachbarschaft des Brecht wird nun der Funküberwachungsdienst der PTT in Verbindung mit dem Nachrichtendienst Zürich eine Kontrollapparatur montieren.»

Diesen Verdacht, es handle sich bei Brechts Bleibe «anscheinend um ein kommunistisches Agitationszentrum, das sich mit Nachrichtendienst befasse und möglicherweise eine Sendeanlage besitze», liessen die Beamten nach «eingehenden Erhebungen und Beobachtungen» erst fallen, als Brecht die Schweiz schon wieder verlassen hatte: «Hinsichtlich der vermuteten Sendeanlage ergaben die Erhebungen, dass diese Vermutung einem belanglosen Gespräch eines Dienstmäd-chens entsprang. Bertolt Brecht (…) lebt heute in Berlin.» (6. Mai 1949) Wahrscheinlich hatte Brecht mit Freunden bisweilen einfach Radio gehört ­ womöglich ausländische Sender, die wegen schlechten Empfangs noch gehörig piepsten und jaulten…

Brecht wäre eigentlich gern noch etwas länger in Zürich geblieben, um von dort aus seine Arbeit in Deutschland zu planen, ähnlich wie es Thomas Mann tat. Aber Rückreisevisa wurden ihm von der Schweiz immer erst nach zähen Bemühungen erteilt. Der Historiker und sozialdemokratische Parlamentarier Valentin Gitermann, der sich wiederholt für Brecht einsetzte, hielt am 8. April 1949 in einer Eingabe an die Bundesanwaltschaft fest: «Herr Brecht beklagt sich, dass ihm daraus die allergrössten geistigen und materiellen Nachteile erwachsen würden. Er müsste sich dann in Deutschland in der westlichen oder östlichen Zone niederlassen, und dann würden seine Werke in der andern Zone verboten werden. Er lege aber grössten Wert darauf, beiden Zonen gegenüber unabhängig zu bleiben. Er wolle, nach wie vor, sich mit seinen Werken im Sinne dieser Unabhängigkeit an das ganze deutsche Volk wenden können. Es widerstrebe ihm überdies, sich um Wiederherstellung seines deutschen Bürgerrechts zu be-mühen, solange es keine deutsche Regierung gebe.»

Doch die Schweizerische Bundesanwaltschaft hatte ihre eigenen Vorstellungen von Kulturpolitik, mochten die Aufführungen von Brechts Stücken am Zürcher Schauspielhaus beklatscht werden oder nicht: «Aus politisch-polizeilichen Gründen sind wir interessiert, dass Brecht so bald als möglich die Schweiz wieder verlassen muss», liess die Bundesanwaltschaft die Eidgenössische Polizeiabteilung, welche der Fremdenpolizei vorstand, schon am 24. Mai 1948 wissen und wiederholte dies am 29. März 1949 gegenüber der Fremdenpolizei selbst mit entsprechend wenig Sprachgefühl auch nochmals direkt: «Nach wie vor sind wir daran interessiert, wenn Brecht die Schweiz so bald als möglich verlassen muss.» Österreich, das sich nicht lumpen liess und den nachträglichen Aufschrei der Kalten Krieger in Kauf nahm, gewährte Brecht 1951 die Staatsbürgerschaft.

Der innenpolitische Kalte Krieg endete auch in der Schweiz 1989, im Jahr des Falls der Berliner Mauer. Eine parlamentarische Untersuchungskommission entdeckte bei der Schweizerischen Bundesanwaltschaft und ihrem Arm, der Politischen Polizei, zufällig Hunderttausende von Überwachungskarten und Dossiers. Akribisch waren da die jahrzehntelang gegen die Bevölkerung angewandten geheimen Staats- und Polizeimethoden festgehalten. Nun befinden sie sich im Schweizerischen Bundesarchiv und stehen auf Einzelanfrage der Forschung zur Verfügung.

Verteidigungsmittel, die eingesetzt werden, um die Bevölkerung nach aussen hin zu schützen, mutieren häufig zu Herrschaftsinstrumenten gegen innen, bevor sie dann als bestaunte Ausgeburten des Geistes im historischen Museum landen.

Landschaften, Täuschungen und Fossile

Die Schweizer Berge, die Brecht von der Wohnung in Feldmeilen aus sah, hatten übrigens kaum sein Interesse zu wecken vermocht, wie Max Frisch einmal nach einer Schwimmpartie mit ihm und Brechts Frau, Helene Weigel, feststellte: «(…) zum schwarzen Kaffee setzten wir uns endlich in seinen Arbeitsraum, der ein schönes Fenster gegen den See und die Alpen hat, die für Brecht allerdings nicht in Betracht kommen (…).»

Auch der bei anderer Gelegenheit zu Besuch weilende Günther Weisenborn bestätigt dies: «Wir sehen über dem blauen Zürichsee in der Ferne die weisse Alpenkette im Aprillicht sich erheben und diskutieren über Spannung, über Verfremdungseffekte und über epische und ortlose Dramaturgie. Seine Argumente kommen mit einer Präzision, die langes Nachdenken verrät. Man finde in seinem Gesamtwerk keine Naturschilderung, meint er einmal.»

Die Schweizer Landschaft bildet eine nicht abreissende Kette schweizerischer Selbstmissverständnisse und Illusionen.

In seiner 1804 erschienenen Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz zu bereisen, riet der Reiseschriftsteller und Naturforscher Johann Gottfried Ebel (1764­1830), ein zuerst nach Paris und dann in die Schweiz emigrierter deutscher «Doktor der Medicin», bei Bergwanderungen Trauerflor mitzunehmen. Dieser dünne, durchsichtige Schleier vor dem Gesicht diene als «Mittel gegen die von der Reflexion der Sonnenstrahlen auf dem Schnee entstandnen Schmerzen»: «Man trage ein Stück schwarzen oder grünen Flor bey sich, um es vor die Augen zu binden, wenn man viele Stunden über Schnee gehen muss», «die Blendung» sei «fast unerträglich, wenn die Sonne scheint.»

Für den Anblick der Berge wurde gelitten. Gustave Flaubert schrieb seinem meist im Ausland lebenden russischen Schriftstellerfreund Iwan Turgenew am 2. Juli 1874 von der Rigi in der Schweiz, dass es «grauenhaft heiss» sei: «(…) die in ihre Zimmer eingesperrten Reisenden schwitzen und trinken. (…) Die Bedienten (…) sind tadellos gekleidet: schwarzer Frack ab 7 Uhr morgens; und da sie sehr zahlreich sind, hat man den Eindruck, als würde man von einem Volk von Notaren oder von zahlreichen Gästen einer Beerdigung bedient: man denkt an seine eigene, das ist lustig.»

Mit ihren Kühen gibt sich die Schweiz seit jeher ein friedliches Gesicht. Ihre andere, aggressivere Natur leugnet sie, so wie sie die Stiere, die der gierigen Hormone wegen uneinsichtig sind und nur Ärger machen, in der Landschaft auch kaum mehr auftauchen. Als Kuhland gibt sich, was nicht als grimmige, unfreundliche Stiernation erkannt werden will. Gleich wie sich die Kühe in einer helvetischen Variante der unbefleckten Empfängnis Gras essend fortzupflanzen scheinen, vermehrt sich auch der schweizerische Reichtum für das Auge wie von selbst, ohne Sünde.

Der Exildeutsche Ebel, der seine Arztpraxis in Frankfurt am Main wegen der Übersetzung revolutionärer Texte hatte aufgeben müssen, schrieb 1798 in einem anderen Werk mit dem Titel Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz zwar, «die Kuh im Appenzeller-Lande geniesst mehr Achtung (…) und befindet sich glücklicher als Millionen Menschen Europas, welche unter dem Prügel und der Knute ihr Leben verfluchen», allerdings meinte er auch, die Sennen sorgten besser für das Vieh als für die eigenen Frauen.

Ebel, der die Schweiz mit ihren «Gebirgsvölkern» wie einer jener Ethnologen bereist hatte, die zur selben Zeit seltsame Gebräuche in der Südsee notierten, erwähnte in seiner Anleitung, die Schweiz zu bereisen: «In manchen Gegenden sind die Alpenbewohner äusserst misstrauisch auf jeden Reisenden, den sie zeichnen sehen, welches sie das Land abreissen nennen. Wo man das bemerkt, unterlasse man es sogleich, um sich keinem Verdruss auszusetzen.» Ebel hatte die Geschichte der argwöhnischen Bergler vermutlich vom Zürcher Geologen und Wasseringenieur Hans Conrad Escher von der Linth (1767­1823) gehört, mit dem er befreundet war und der die Alpen wie nur wenige erwandert hatte. Mit seinen vor Ort gezeichneten Alpenpanoramen erlangte Escher Berühmtheit. Die Gebirge erschienen schon als ängstlich zu behütendes Kapital, als sie sich noch kaum rechneten.

Dabei war noch nicht einmal klar, was die Alpen überhaupt ihrer Natur nach waren. Ihre Entstehungsgeschichte war Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen. Phantastische Vorstellungen kursierten über die Fossilen, die da und dort zum Vorschein kamen ­ diese seltsamen, in den Fels gepressten vorweltlichen Tiere. Kein Geringerer als Erzherzog Johann von Österreich stellte damals Hans Conrad von der Linth die Frage, ob die Gebirge mit ihren merkwürdigen versteinerten Tieren nicht von einer Kollision der Erde mit einem fremden Stern herrührten. Escher antwortete im September 1816: «Euer kays. Hoheit geben mir in dero verehrten Zuschrift vom 11. Jul. eine wichtige Frag zu berathen. Ob nicht ein Theil unsrer Gebirgslager mit den Versteinerungen der unsre Erde (anscheinend) frömbden Geschöpfen von einem andern Weltkörper herrühren könnte, der sich mit dem unsrigen verband und durch die Rotationskraft in noch weichem Zustande sich allmählig über unsern ältern Erdkern hinlagerte? Wenn wir diese Hypothese annähmen, so würden uns Rätzel verschiedener Art auf einmal gelöst (…). Aber wir sahen nirgends im Universum solche Vereinigungen oder Zusammenschmelzungen verschiedner Körper. (…) Überdies sind wir noch so wenig weit vorgerükt in der Kentnis der Erdrinde und der Kräfte, die auf ihre allmählige Ausbildung gewirkt haben mögen, dass wir, wie mir scheint, noch lange nicht berechtigt sind, zu ausserordentlichen Einwirkungen unsre Zuflucht zu nehmen (…).»

Wissenschaftsmythen eignen sich in vielem besser zur Demonstration der Anfälligkeit des Denkens für Fiktionen als die viel zäheren, langlebigen Mythen aus Politik und Geschichte.

Die touristische Entdeckung der Berge erfolgte, nebenbei bemerkt, zeitgleich wie jene der Meeresküsten. Strände und Gebirgsspitzen dienten den Reichen aus den Städten gleichermassen zur Fernsicht ­ als gigantischer natürlicher Fernsehapparat sozusagen. Nur Opernbühnen und Spiegel vermochten die Menschen damals noch anhaltender zu fesseln. Über die Rigi und die Aussicht in ihre Abgründe schrieb Victor Hugo 1890: «Ich legte mich auf dem Bauch an den Rand einer Felskante und ich schob den Kopf vor, um mit dem Blick im Abgrund zu wühlen (…). Diese Berge sind tatsächlich Wellen, aber Riesenwellen. Sie haben alle Formen des Meeres, es gibt grüne und dunkle Wogen in Gestalt von Tannen bedeckten Kuppen, blonde und steinige Brecher aus Hängen von durch Flechten vergoldetem Granit und auf den höchsten Auftürmungen zerreisst der Schnee und fällt zersplittert in die schwarzen Schluchten, wie es die Gischt tut. Man glaubt, einen ungeheuren Ozean mitten in einem Sturm erstarrt zu sehen (…).»

Aus schweizerischer Perspektive erschienen die Gebirge eher als Bollwerke gegen das Fremde, und nur die Ironie der Geschichte machte im Tourismus daraus einen Anziehungspunkt für eben diese Fremden. Noch Jeremias Gotthelf hatte in seinem 1846 erschienenen, betont antiliberalen Roman Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz von den Schneebergen als den «schneeigten eigentlichen Schweizerburgen» gesprochen.

In den Bunkern des Zweiten Weltkriegs vertieften die Schweizerinnen und Schweizer ihre alte defensive Gebirgssymbolik.

Neutralität, Giftgas und die Bombe

Makabrerweise hatte sich die Schweiz im Zweiten Weltkrieg auch eine Chemiewaffen-Kriegs- führung und unmittelbar nach dem Krieg selbst eine Atomwaffen-Option offengehalten, wie Untersuchungen des Historikers Peter Hug zeigen. Das mittlerweile in der Novartis aufgegangene Basler chemische Unternehmen Ciba erhielt 1939 von der Armee den Auftrag, Senfgas herzustellen. Schon die ersten, im Oktober 1940 angelieferten 35 Tonnen bereiteten riesige Probleme, da der Giftstoff sich als höchst korrosiv erwies. Im ersten Jahr erlitten 23 Ciba-Arbeiter in der Produktionsanlage in Monthey (Wallis) schwere Verbrennungen an Augen, Händen und Armen. Der Dilettantismus setzte sich fort, als bei den angeordneten Gaskriegübungen die sogenannten Nebeltruppen 1940 Rauchnebelgranaten mit Perchlor-Naphtalin zu verschiessen begannen. Die Folge war ein grosses Viehsterben. Es kamen gesamtschweizerisch 13 956 sogenannte «Nebelkühe» um. Da die Truppen nach allgemeinem Dienstbefehl des Jahres 1941 lernen sollten, «sich in wirklich vergiftetem Gelände (…) richtig zu benehmen», wurden die Nebelkompanien laut Peter Hug «mit 12-cm-Minenwerfern, (…) tragbaren Rebenspritzen, umgebauten Kompaniewagen mit Tankbehältern und Pumpeinrichtungen sowie einer fahrbaren Abfüllstation für Senfgasminen und Kampfgeschossen» ausgerüstet. Ein Kompaniehauptmann tat sich mit der Schnell-Methode hervor, die angestrebte Geländevergiftung «durch Sprengung von Fässern» zu erreichen. Wegen undichter Schutzkleidung, Handschuhen und Stiefeln kam es zu zahlreichen Unfällen. Erst im März 1943 sah sich der General in einem Schreiben an den Bundesrat «veranlasst, von weiteren Vorbereitungen zum chemischen Krieg abzusehen».

An der Bevölkerung vorbei und zeitweise unter bewusster Irreführung des Parlaments betrieb die Landesregierung von 1945 an auch gezielt Vorarbeiten für eine Schweizer Atombombe, wie mehrere inzwischen vorliegende Studien belegen. Die Beschaffung des atomaren Spaltmaterials bildete lange das am schwersten zu lösende Problem und gelang erst 1959 mit dem Ankauf von 10 Tonnen metallischen Urans. Nur um die geplanten Fliegerbomben auch bis nach Moskau transportieren zu können, entschied sich die Armeeführung 1961 zum Ankauf der französischen Mirage-Flugzeuge. Einen empfindlichen Rückschlag für die Planungen bedeutete der 1969 eingetretene grösste anzunehmende Atomunfall im als rein zivil deklarierten Versuchsreaktor von Lucens/Kanton Waadt, dessen Kern durchschmolz, sich entzündete und die ganze Kavernenanlage in eine verstrahlte Hölle verwandelte. Doch erst 1988 löste die Regierung den militärischen «Arbeitsausschuss für Atomfragen» auf und verzichtete auf die Pläne für eine Schweizer Bombe.

Bemerkenswerterweise hatte 1962 ein damals noch exklusiv männliches Stimmvolk ­ die politische Diskriminierung der Frauen wurde erst 1971 aufgehoben ­ eine Atomwaffenverbotsinitiative der «Schweizerischen Bewegung gegen atomare Aufrüstung» deutlich abgelehnt. Eine zweite, diesmal sozialdemokratische Initiative, welche die Entscheidung zur Atombewaffnung wenigstens einem vorgängigen Referendum unterstellen wollte, wurde 1963 ebenfalls in einer Volksabstimmung verworfen. Das hatte mit dem noch weitgehend intakten «Glauben» an das Schweizer Militär zu tun.

Vergletscherungen und schmerzstillende Eisbeutel

Aus dem Berner Oberland stammt eine sehr bezeichnende Sage über vertanes Glück. Die Geschichte reiht sich ein in eine lange Tradition von Geschichten über Hochmut und Respektlosigkeit. Wo heute eine von Felsen und Eismassen bedeckte Wüste sei, habe vor langer Zeit eine mit Blumen übersäte Alp dem Sennen und der Sennerin, seiner Frau, das schönste und üppigste Leben gewährt. Dieses Glück nahmen die beiden als so selbstverständlich hin, dass ihnen bald nur noch Hartherzigkeit und Grössenwahn Abwechslung zu bieten schienen. Während sie armen Bittstellerinnen und Bittstellern nur mit Verachtung begegneten und sie mit Körben voller Mist bewarfen, bauten sie sich selbst vom tiefen Tal bis in die himmlischen Höhen ihrer Alp eine Treppe aus lauter goldgelb schimmernden Käselaiben, auf der sie, ohne einen Fuss in den Schmutz zu setzen, herauf- und herunterspazierten. Als aber einmal die Fee, welcher diese reichen blumigen Wiesen gehörten, vor der Tür des Sennen und der Sennerin erschien, um ihren Anteil in Gestalt einer bescheidenen Mahlzeit zu erbitten, da sie hungrig sei, wurde sie von den beiden mit Spott übergossen, und der Tisch wurde ihr auf dem Misthaufen gedeckt. Statt Milch und Käse bekam sie nur Hohn und Unflat vorgesetzt. Nicht einmal ein Stuhl wurde ihr angeboten. Da verwünschte die Fee die blühende Alp, und augenblicklich verdunkelten Schnee, Eis und Fels das kleine Paradies. Noch heute, so weiss die Sage zu berichten, seien auf der Blümlisalp unter dem Eis manchmal die jammernden Stimmen des hochmütigen Paares zu vernehmen.

«Wohlstand» heisse, so erläutert mir in Zürich der Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler, «ein breites Spektrum von Optionen zu haben». Die Schweiz sei eine «Wohlstandsregion», selbst wenn sie mit anderen reichen Regionen etwa in Deutschland verglichen, nicht mehr so herausrage. Siegenthaler, der sich intensiv mit den wirtschaftlichen Bedingungen von «Orientierungskrisen» befasst hat, erklärt mir, ihm scheine, «dass die Leistungsfähigkeit einer Ökonomie in ganz hohem Masse davon abhängig ist, dass Leute reflektiert entscheiden» und «dass genügend Denkwiderstände aufgebaut werden», um zum Scheitern verurteilte Konzepte «rechtzeitig wieder loszuwerden».

«Denkwiderständen» spricht er eine kreative, nicht eine destruktive Funktion zu: «Die beste Chance, seine Irrtümer wieder abzuschütteln», liege darin, sich die «Mühe» zu machen und die «Gelegenheit» zu ergreifen, «Gespräche zu führen, die sich nicht an die engeren Grenzen der eigenen Organisation oder der eigenen sozialen Formation halten, sondern wirklich die Grenzen überschreiten.»

Es ist nicht die erste Bewusstseinskrise und wird auch nicht die letzte sein, welche die Schweiz derzeit durchlebt, aber sie geht tief. Den Wandel zu verhindern und den Status quo zu bewahren verschlingt hierzulande mehr Energie, als je erforderlich wäre, um Bewegung und neue Erfahrungen zuzulassen. Schon Karl Marx, der deutsche exilierte Philosoph, schrieb im Vorwort zum Kapital, dass die «Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist», doch immer wieder wirken weite Teile des schweizerischen politischen Lebens wie eingefroren.

Oft genug scheint überdies in der Schweiz die eine Hand nicht zu wissen, was die andere tut, und macht es den Eindruck, als sei auch der Kopf, falls es einen gäbe, ganz woanders beschäftigt. Im Jahre 1891, als die Eidgenossenschaft sich anschickte, mit dem 1. August und dem mythischen Anfangsdatum 1291 der damals aus innenpolitischen Gründen lädierten schweizerischen Seele einen schmerzstillenden Eisbeutel aufzulegen, unternahm die elektrotechnische Abteilung der Maschinenfabrik Oerlikon bei Zürich zusammen mit der deutschen AEG auch das erste grosse, weltweit beachtete Übertragungsexperiment von elektrischem Starkstrom über lange Distanzen zwischen Lauffen am Neckar und Frankfurt am Main, das «als Hauptattraktion» der internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt neue zukunftsweisende Standards durchsetzte, wie der Technikhistoriker David Gugerli in seinem Buch Redeströme schildert. Spätestens 1888 galt für den jungen Schweizer Ingenieur Charles Brown die Umwandlung der schweizerischen Wasserkräfte in Strom als Arbeitsgebiet der Zukunft, und damit wurden die von der Geschichtsfolklore mythisierten Schweizer Berge einer neuen Bestimmung übergeben. Diese Be-wusstseinsspaltung, dieses Oszillieren zwischen ersehnter Modernität und selbstauferlegter Zurückgebliebenheit, dieses Nebeneinander von Stagnation und innovativer Dynamik, scheint beinahe konstitutiv für die sprichwörtliche, von Einzelpersonen völlig unabhängige, auf Tiefkühltemperatur eingepe-gelte schweizerische Stabilität zu sein.

Es ist, als wäre die nostalgische Gedankenverlorenheit Teil einer perfekten Tarnung der schweizerischen Gesellschaft vor sich selbst und eine immer wieder von neuem willkommen geheissene Flucht vor der eigenen Gegenwart. Das Politische als Begegnungsfeld von archaischem Fühlen und rationalem Gewinn- und Fortschrittsdenken, dem sich zwischen Alphorn und Generatorenlärm als meist überstimmte dritte Kraft die Parteien des Gewissens hinzugesellen, gleicht deshalb nur allzuoft einem Dialog von Gehörlosen. Der irrlichternde, von globalen Geld- und Materieströmen durchzogene hohe Himmel des grenzüberschreitenden Konzerns Schweiz und das enge, politisch vergletscherte schweizerische Seelental berühren sich im virtuellen Stillstand der Hirnströme bei der Alpenmeditation. Da wird die kleinstaatlich-isolationistische Machtpolitik kristallen ­ zum Gemurmel kaum mehr ansprech- und wiederbelebbarer Eismumien.

Bilder im Originalartikel:

Alexandre Calame (1810­64) Blick von Brunnen auf den Urirotstock. Kunstmuseum Luzern (Depositum Gottfried-Keller-Stiftung)

Ferdinand Hodler, Eiger, Mönch und Jungfrau über dem Nebelmeer. 1908. (Musée Jenisch, Vevey. Schenkung aus Nachlass Prof. A. Stoll)