16. März 1996, Magzin der Basler Zeitung (Nr. 11)  [Hier klicken für die Zeitungsausgabe des Textes]


«Aus meiner linken Schublade»
Notizen zu den ungeschriebenen Memoiren des Kabarettisten, Regisseurs und Erzählers C.F. Vaucher
Von Peter Kamber


«Ich wuchs also in einem Haus heran, das bürgerlich war und wohlgeordnet, mit einer blonden Mama, die lieblich war, heiter, immer versöhnlich, der Papa dagegen war herrisch, in straffe Gilets gewandet, den Hals in handbreite, würgende Kragen stranguliert und unter der Nase mit einem Schnauz dekoriert, dessen Spitzen rechteckig abgeklemmt in seine Visage wie zwei vergiftete Pfeilspitzen aufschossen. Bei Tisch, auch während der grössten Sommerhitze, gestattete er sich als einzige Erleichterung, dass er seine Manschetten aus den Ärmeln löste und sie zusammengesteckt auf ein Regal stellte. Eine Femme de chambre bediente. Als einziges Kind war ich wohlbehütet und streng reglementiert: mein Gehen und Kommen wurde uhrgenau geprüft. Für meinen Schulweg bekam ich eine exakte Zeit zubemessen, und für jede Verspätung hatte ich Rechenschaft abzulegen.»

Charles Ferdinand Vaucher, meist abgekürzt C.F. Vaucher, französisch ausgesprochen mit weichem «W» und «sch», wurde unter Freunden nur »Vauchi« genannt, mit scharfem «F» und rauhem helvetischem Rachenlaut. Gefaucht hat er indessen selten. Er war ein sanfter Rebell, sowohl in jungen Jahren als revolutionär gesinnter Tänzer, Schauspieler und Regisseur, der seinen früh ererbten Reichtum beinahe restlos für Bühne und Film hingab, wie auch als grosser alter Mann, der sich mit Auftragsarbeiten über Wasser hielt und nur noch selten zum freien Schreiben kam. Es war gänzlich gegen sein Wesen, sich wo auch und bei wem auch immer aufdrängen zu wollen. Lästig gefallen ist er nie, auch wenn er in den 60er Jahren am Radio und im Fernsehen oft der einzige war, der sagte, «was in jenem Augenblick keiner gesagt, keiner gewagt hätte», wie die «Basler Nachrichten» in einem Nachruf auf ihn schrieben. C.F. Vaucher starb am 28. Februar 1972 an Herzversagen, kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag.

C.F. Vaucher zählte zu den Menschen, die letztlich darauf angewiesen sind, dass wir ihrem Charme erliegen und sie auffordern, ganz aus sich herauszukommen. Er gehörte auch zu denen, die in sich stets noch eine Seite mehr vereinigen, als von aussen erkennbar ist, selbst wenn sie immer nur mit einer einzigen, unverwechselbaren Stimme zu uns sprechen: Vaucher der «Romand» war noch in Zürich immer Vaucher der Basler; der Bühnenschalk, der Kabarett-Virtuose hörte nicht auf, gleichzeitig der Literat zu sein, der sich über die eigene Achsel schaute und engagierte Reportagen schrieb; als Mann eindrücklicher, im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehender Frauen ­ zuerst der Tänzerin Katja Wulff und dann der Schauspielerin Edith Carola ­, blieb er einer, der seit seiner Jugend auch den Schmerz kannte, den Liebe manchmal mit sich bringt.

Erzählungen eines Lebens

Der ganze Nachlass Vauchers hatte in einigen wenigen Pappkartons Platz. Als mich die Studienbibliothek in Zürich 1994 damit betraute, diese Schriften, Texte und Dokumente durchzusehen, und ich die Schachteln in Empfang nahm, dachte ich an all die anderen Nachlässe, welche ich schon vor mir liegen gesehen hatte ­ und die uns Weiterlebenden auf erbarmungslose Weise die Endlichkeit und vielbeklagte Nichtigkeit so vieler unserer Anstrengungen vor Augen führen.

Doch kaum hatte ich die ersten, noch von Vaucher selbst beschrifteten Mappen aufgeschlagen und in den Aufzeichnungen zu lesen begonnen, verschwand dieses entsetzliche Gefühl des «Wie wenig von einem Leben bleibt» wieder, so plötzlich, wie es mich ergriffen hatte. Ein vollständiges persönliches Universum tat sich vor mir auf, eine für sich unendlich weite Vorstellungswelt öffnete sich, und in nahezu lückenloser Chronologie liefen über sieben Jahrzehnte wie in einem Film vor mir ab.

In Interviews und Gesprächen hatte C.F. Vaucher wiederholt erklärt, noch ein Buch mit dem Titel «Aus meinem Leben» oder ­ mit einem Lachen ­ «Die Kunst zu leben» ­ fertigschreiben zu wollen, wenn er noch dazu komme. Gleichzeitig verkündete aber eine leisere Stimme in ihm, dass er drauf und dran war, zu resignieren, lautete doch der Schlussvers eines ­ wie die ganze Mappe mit den späten lyrischen Arbeiten ­ verschollenen Gedichts, dem er den Titel «Selbstporträt» gab: «Das Bücher schreiben, das blieb ihm erspart, sein Werk, das waren leere Wände; und nur sein Antlitz, als es älter ward, das sprach gewissermassen Bände.»

Manche Menschen jedoch ­ und zu ihnen gehörte C.F. Vaucher ­ schreiben unablässig ihre Memoiren, hinterlassen, fast ohne es zu merken, ihre Erinnerungsspuren. Mal sind es nur kleinste Textfragmente, mal längere Passagen, in denen sie unvermutet oder auf Anfrage Rückschau halten, gelegentlich teilen sie sich sogar auf alten Radiobändern oder Filmspulen mit, oder sie gravieren ihre Erinnerungen erzählenderweise und ganz nebenbei in das Gedächtnis von Freunden und Bekannten, die ein Ohr haben, um zuzuhören, und die solche Geschichten am Leben erhalten, indem sie sie weitererzählen.

Es müssen indessen schon besondere Geschichten sein, wenn sie es schaffen, inmitten all des Gehörten und Gesehenen zu überdauern, und solche unvergesslichen Geschichten eben erzählte ­ dies erklärten mir alle, die ihn kannten ­ C.F. Vaucher. Das mag zum einen daran liegen, dass die Wendepunkte seines Lebens zusammenfielen mit den grossen Umbrüchen dieses Jahrhunderts: dieser Sohn eines Basler Chemiedirektors durchlebte die Jahre des jugendlichen Aufstandes gegen die grossbürgerliche Steifheit mitten in der revolutionären Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, und seine intensivste Schaffensphase deckte sich mit den Jahren des Zweiten Weltkriegs und des nachfolgenden Kalten Krieges. Die faszinierendsten Biographien sind keineswegs zufällig jene, in denen sich die kleine persönliche mit der grossen allgemeinen Geschichte trifft.

Vaucher hatte zum anderen aber auch einen seltenen Blick für sprechende Details und fand eine Sprache, die unmittelbar fesselt. Über im Hause stattfindende Geschäftsessen seines Vaters, die er als Kind beobachtete, schrieb Vaucher in einem Textfragment aus den dreissiger Jahren:

«Es scharte sich denn auch ein Kreis Menschen um ihn [den Vater], von denen ich, was ihre hauptsächlichsten Charakteranlagen betrifft, noch heute nicht weiss, wie ich sie einordnen muss. Sicherlich bestanden sie in der Mehrzahl aus solchen, welche, durch Zufall oder Spürsinn, sogleich seiner Gunst teilhaftig geworden, nun bewusst seine Vorliebe für würdevolles Benehmen und gesellschaftlichen Anstand benutzten und in ihrer Umgangsart ein höfisches Betragen an den Tag legten, wie es hierzulande nur noch ­ und höchst selten ­ auf dem Theater gezeigt werden darf. Etliche dieser Herren trieben ihre Affektiertheit bis zur devoten Manie, indem sie, gefragt sich zu äussern oder im Verlangen, dies zu tun, sich von ihren Sitzen zumindest soweit erhoben, dass man mit geballter Faust zwischen Sitzpolster und ihrem Gesäss, ohne den einen oder anderen zu molestieren, hätte vorbeifahren können.»

An den väterlichen «Bücherkasten» erinnerte er sich bei einer anderen Gelegenheit so: «Es waren Bände darunter in getriebenes Leder gebunden, schwer wie ein mit Nägeln gefülltes Paket, sie waren innen mit Seide gefüttert, andere hatten die Buchseiten nur lose eingesteckt, die dazugehörigen Gravüren in einzelne Druckphasen gesondert. Zuvorderst auf dem einen Regal lagen zwei Paare Glacéhandschuhe, die man sich über die Finger zu stülpen hatte, ehe man in diesen Kostbarkeiten blätterte. Für beide, die Handschuhe und die ‹Edelschmöker›, empfand ich jene Nachsicht, welche die Jünglinge den älteren Herren schuldig zu sein glauben.»

Vauchers farbige Beschreibungen der Kindheit und Schulzeit fügen sich zu einem eindringlichen Zeitgemälde. Porträts von Lehrern, «die an einen lieblichen Irrsinn grenzten», lösen sich ab mit Schilderungen jugendlicher Wahnsinnstaten: So bestieg Vaucher, der auch in den Bergen ein guter Kletterer war, einmal einer Wette wegen während einer geschwänzten Geschichtsstunde den Georgs-Turm des Basler Münsters, «bis hinauf zur obersten Kreuzblume, ziemlich weit über dem, was die ‹letzte Galerie› heisst, um dort oben gegen den Blitzableiter einen Kopfstand zu drücken»: «Ich muss sagen, als ich dort oben (...) war, pochte mein Herz ein bisschen, aber als ich sah, wie an beiden Gebäuden des Gymnasiums (...) die Fenster vollgestopft waren mit Köpfen, die aussahen wie Trauben, dichtgedrängt, und heraufschauten, da nahm ich meine letzte Courage zusammen».

Während des Ersten Weltkriegs hatten sich in der Schulklasse die Deutsch- und die Frankreichfreundlichen heftig befehdet, schreibt Vaucher, «wobei ich einmal unseren Primus an den Haaren auf die Schulbank riss und ihm ein Tintenfässchen auf das Gesicht ausleerte. Er revanchierte sich ­ er war der zartere, feinere und schwächere von uns beiden und übrigens auch ein ausgezeichneter Musiker ­, indem er mir ein farbiges Heldenbild vom Hindenburg in die griechische Grammatik klebte, was mich zur Raserei brachte. Ich kann mich eigenartigerweise an kein Lehrerwort in jener Zeit erinnern, das gegen den stumpfsinnigen Fanatismus Stellung bezogen und uns ermahnt hätte, als ‹zukünftige Akademiker und Geistesträger Helvetiens›, Mässigung walten zu lassen. Niemand, der mit einem Aufruf zum Frieden, zur Waffenvernichtung, zur zukünftigen Völkerversöhnung vor uns angetreten wäre, nein, sie haben brav ihr Pensum gelehrt, korrekt bis zur Versündigung an einer irregeleiteten Jugend (...). »

Jegliche Form nationalistischer Anwandlungen vergingen dem jungen Vaucher aber spätestens, als sein Frankreich-begeisterter Vater ihn zu einer Parade über die Grenze ins elsässische Village-Neuf mitnahm: «Alles rief: ‹Vive la France!› ­Hoch lebe Frankreich ­ und ‹Hors les boches!› ­ Hinaus mit den Deutschen ­, die Frauen warfen den Franzosen Büschelchen von herbstlichen Astern vor die Füsse, ich schwang brav mein Fähnchen und achtete nicht gross auf meinen Vater. Plötzlich sehe ich, wie er seinen Mantel auszieht und hopps ­ damit auf die Strasse raus, gerade vor die Füsse des Fähnrichs! Im Augenblick verstand ich nicht ganz, was er meinte. Jetzt weiss ich’s: Es sollte heissen: ‹Ich breite dir und deiner Fahne einen Teppich unter die Füsse›, so wie man bei Fürstenempfängen vom Auto bis zum Palast einen Läufer ausrollt. Aber dieser Mantel war nicht ganz so glatt wie ein Teppich, und ich sah gerade noch, wie unserem schmucken Fähnrich sein Stiefel sich in ein Armloch vom Mantel verkroch ­ einen kurzen Moment schleifte er ihn am Fuss nach, kam dann mit dem anderen Fuss auf den zerknüllten Stoff zu stehen... und dann passierte es: Mitsamt der Fahne fiel er der Länge nach hin, platt auf den Bauch, in seiner schönen Uniform, mitten in die Neudorfer Pfütze und den Kuhdreck, samt der Trikolore mit ihren Goldborten und Ehrenzeichen. Ja, es hat einen ganz schönen Aufruhr gegeben. Man drang auf meinen Vater ein, beschimpfte ihn: ‹Söischwoob!› und ‹Verräter!› und ‹Hänget ihn, ihn und sin Schnuderbüewele!›, Faustschläge hagelten auf uns nieder, und ein Soldat drückte ihm das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett auf die Brust. Da ich mich für meinen Vater wehrte ­ ich hatte das ja schon in der Schule gelernt ­ bekam ich plötzlich mit etwas Hartem eines auf den Schädel, so dass ich für die Zwischenzeit meinen klaren Verstand verlor und erst wieder zu mir kam, als wir in einer Stube drin sassen. Bei Bauern. Mein Vater hatte eine blutige Schramme am Kopf, seine Kleider waren verdreckt und zerrissen, und vor dem Haus hörte man immer noch das Volk wüten. Erst allmählich legte sich der Tumult. Der ‹Maire›, der Bürgermeister kam, entschuldigte sich, und der Dorfpolizist, der noch die deutsche Uniform anhatte, aber ein französisches Käppi auf dem Kopf trug, nahm ein langes Protokoll auf. Jetzt fuhren wir heim, der Papa und ich. Stumm. Er hat über diese Episode nie mehr ein Wort verloren mir gegenüber. »

Unbezwingbare Leidenschaft fürs Theater

Vom ursprünglich aus dem Neuenburgischen stammenden Vater zu einem Jus-Studium in Genf verdonnert, schloss sich Vaucher, statt in den Vorlesungen zu sitzen, der Schauspieltruppe des berühmten russischen Theatermannes Georges Pitoëff an und absolvierte in vollkommener Heimlichkeit schliesslich am Genfer «Conservatoire» sogar die Schauspielklasse. Die Familie kam erst drauf, als der junge Vaucher in einem Molière-Stück in Basel gastierte...

Zwischendurch gezwungen, sich den finanziellen Druckversuchen des Vaters zu entziehen, machte Vaucher, der perfekt bilingue war, Deutsch-Französisch-Übersetzungen für das tschechoslowakische Pressebüro im Völkerbundpalast. Eine Zeitlang war er sogar Privatübersetzer für den damaligen tschechischen Aussenminister (und späteren Staatspräsidenten) Eduard Benesch. Wenn er eine Völkerbundsrede Beneschs zu überarbeiten hatte, wurde Vaucher jeweils eine Woche lang in ein Grand Hotel eingesperrt, damit die Rede «ja geheim» blieb!

Um ihm die Flausen auszutreiben, schickte der Vater seinen Sohn Charles Ferdinand 1927 nach dessen ungeachtet aller Mühen doch noch absolvierten Jus-Studium zu einem für seine Strenge bekannten Onkel nach Algerien. Dieser Mann hielt die Landarbeiter auf seinem Grossgrundbesitz wie Leibeigene und machte mit seinen grausamen Kolonialattitüden den jungen Vaucher erst recht zu einem Revolutionär: «Mit Sofas, Häkeldeckchen, Klavieren, Schaukelstühlen und einem gipsernen ‹Maréchal Joffre› auf einer Etagère suchten alle diese Leute etwas von jener Luft zu retten, die sie einst in irgendeiner Banlieue auf dem französischen Mutterterritorium zu den glücklichsten Spiessern der Welt gemacht hatte. Den klimatischen Forderungen zum Trotz waren die Frauen auf kokett herausgemacht mit Teint und Puder, der von ihren schweissigen Gesichtern abblätterte wie der Verputz an der Decke einer Küche, und die Männer steckten mit zornigen Hälsen in Stehkrägen, deren oberer Rand schwarz und pappig war.»

Noch ein allerletztes Mal machte der Vater seinen Einfluss geltend und vermittelte den malariakrank heimgekehrten Sohn nach der Genesung als Juristen in ein Notariatsbüro. Auch das ging nicht lange gut, und fortan verfolgte C.F. Vaucher ganz seine eigenen Ziele. Er, der eng mit dem 1927 verstorbenen expressionistischen Maler und Bildhauer Hermann Scherer befreundet war, wurde Mitglied der Tanzgruppe von Katja Wulff, ging nach Paris, machte eine Regie-Assistenz bei Louis Jouvet, der Giraudoux- und Cocteau-Stücke zur Uraufführung brachte, kehrte nach Basel zurück und betätigte sich von da an als Agitprop-Regisseur der radikalen Basler Linken!

Sein Vater verstarb 1930, hatte jedoch noch testamentarisch bestimmt, dass der angeblich unkontrollierbare Sohn vorerst nur in sehr bescheidener Weise an das Erbe herankäme. Als erstes gründete der plötzlich doch wenigstens ein wenig liquid gewordene Vaucher 1932 mit arbeitslosen Schauspielerinnen und Schauspielern eine Theatergruppe, die «Truppe der Gegenwart». Mit dabei war kein Geringerer als der hochtalentierte, damals noch gänzlich unbekannte Alfred Rasser, der auf Anhieb Aufsehen erregte. Das Stück «John D. erobert die Welt», das Vaucher zur Aufführung brachte, stammte von Friedrich Wolf, der 1930 mit dem Aufklärungsstück «Cyankali» in Basel für einen Theaterskandal gesorgt hatte.

Vaucher und Katja Wulff ­ erst vor Kriegsausbruch, im Mai 1939 heirateten die beiden ­ wurden damals Stammgäste im legendären Künstlertreffpunkt «Club 33», wo Max Haufler und Alfred Rasser in Kabarettnummern ihre umwerfende künstlerische Begabung frei auslebten.

Im selben Jahr 1933 trat Vaucher einer geheimen Organisation bei ­ «wir hatten sogar unsere Tarnnamen» ­, die von den Nationalsozialisten bedrohte politische Flüchtlinge schwarz über die Grenze holte. 1934 besorgte Vaucher und der mit ihm befreundete Architekt Paul Artaria unter anderem die Flucht des Schauspielers Wolfgang Langhoff, der ohne Pass aus einem KZ entlassen worden war und nach Warnungen befürchten musste, erneut verhaftet zu werden. Langhoff wirkte danach jahrelang am Zürcher Schauspielhaus.

Jahrzehnte später erzählte Vaucher diese Episode am Radio und schloss schmunzelnd: «Im Buch ‹Die Moorsoldaten›, das Wolfgang Langhoff später schrieb, erwähnt er diese kleine Fahrt ­ ich habe es da vor mir mit einer Widmung, und in dieser Widmung steht: ‹Lieber Vaucher! Als Dank für einen «schönen Autoausflug› diesen Bericht. Dein W. Langhoff.› Man sieht, die Widmung ist ohne Spezifikation, all das ist noch gute Tarnung, man sollte nicht merken, dass es tatsächlich um eine ganz bestimmte Sache ging.»

Vaucher der Literat

«Ich habe ja immer davon geträumt, ein grosser Dramatiker zu werden, ein Romancier, zumindest ein besserer Lyriker», erklärte C.F. Vaucher 1964 in einer dreiteiligen Radiosendung «Aus meinem Leben». Bei einer anderen Gelegenheit erwähnte er mit leiser Ironie: «Schon mit acht Jahren las ich Goethe und machte Gedichte, die natürlich tausendmal besser waren als dem Goethe seine!» Vauchers erstes, und zu Lebzeiten einziges veröffentlichtes literarisches Werk erschien im Oktober 1934 und hiess «Polly». «Kinder in Neubauten», lautet der Untertitel dieses 82 Seiten schmalen Prosabandes. In nüchternem, ungespreiztem Ton ­ «Bauhaus»-Sprache, läge es fast nahe zu sagen ­ schildert er mit expressionistischer Tiefenschärfe die Erlebniswelt Halbwüchsiger in den neuentstehenden Aussenquartieren Basels zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Höhepunkt ist eine Folterszene, die aus der Perspektive des Opfers geschildert wird.

Auf der unbewachten Baustelle, die den Jungen als Spielgrund dient, wird ein Mitglied der Jugendbande an einem Seil hochgezogen und mit einer Glasscherbe geschunden. Die Schmerzempfindung weckt in dem Jungen «die Erinnerung an eine Jahrmarktszene»: «Hinten an eine Art Vorbau aus Holz befestigt, stand ein Pfahl, wohl das Fünffache der Länge eines Menschenkörpers. Schlug man mit einem Hammer gegen den Kasten vorne, so schnellte am Pfahl ein Gewicht hoch. Viel Geschrei war drum herum, mit Männern in Hemdsärmeln, die ihre Stärke erprobten. Aber nur wer Kraft besass, vermochte das Gewicht bis in die höchste Spitze zu treiben, wo es dann einhakte an ein Läutwerk, das bimmelte. Über den grossen Rummelplatz, mitten unterm Lärm der Karusselle, der Budenausrufer, der Anpreisung, des Treibens und Schnurrens, war das Glöcklein hörbar gewesen und der dumpfe Aufschlag der Hämmer gegen den Holzblock. Gar eindrücklich war für ihn das Erlebnis mit der Kraftmaschine, und er hatte den Ort, wo sie aufgerichtet gewesen war, ‹Snatzhetzendott› genannt. Nun aber war er wie verödet. Einsam ragte der Pfahl aus dem Boden. Kein Gewicht ging hoch an ihm. Oben auf der Spitze sass unbeweglich sein Herrgott und hatte die Beine gespreizt. Unter ihm, wo die Glocke befestigt gewesen war, hing sein mächtiges Geschlecht, dasselbe, das ihm einmal ein Mann vorgewiesen hatte, als er auf seine Einladung hin diesem hinter einen Bretterzaun folgte.»

Das Buch, an dem Vaucher schon in der Studentenzeit geschrieben hatte, wurde von der Kritik sehr lobend aufgenommen und begründete auf einen Schlag seinen Rang als vielversprechender Schriftsteller. Tatsächlich arbeitete Vaucher damals auch schon an einem neuen Werk mit dem Arbeitstitel «Bildnis meines Vaters». Der Roman beginnt mit Bildern von dessen Krankheit. Distanziert sitzt der Erzähler neben dem Sterbenden, dem das Leiden zur Gewohnheit geworden zu sein scheint. Rückblenden führen zurück in die eigene Kindheit. Vaucher gelingen sehr eindringliche, fast «spätkubistisch» zu nennende Schilderungen des väterlichen Gesichts.

Die Arbeit an Theaterstücken, Hörspielen und Filmdrehbüchern und nicht zuletzt Vauchers Engagement als Intellektueller gegen den Faschismus verhinderten dann aber die Weiterarbeit an dem Manuskript. Im April 1936 las Vaucher auch an einer Lyrikveranstaltung in Zürich, unter anderem zusammen mit Walter Lesch und Max Werner Lenz, den Autoren des Cabaret Cornichon. Die «National-Zeitung» bemerkte über den Abend: «Die eigentliche Überraschung bildete aber das ironisch-ätzende Gedicht ‹Ich bin!› des durch die Kindererzählung ‹Polly› vorteilhaft bekannten C.F. Vaucher. Es sieht die Welt mit einem merkwürdig bitteren und nüchternen Blick.» 1937 steuerte Vaucher dann bereits erste Texte für die Programme des Cornichon bei. 1940 sollte er als Regisseur und Autor ganz zu der legendären Cabaret-Truppe stossen.

Die Erbschaft und der «Farinet»-Film

Die sich zuspitzende internationale Lage und die Schriftstellerkongresse in Paris 1935 und Madrid 1937, an denen Vaucher teilnahm, liessen ihm kaum noch Zeit zur Fortführung seiner vor-existentialistischen (Sartre veröffentlichte «La nausée»1938) und arbeitsintensiven Prosaversuche. Zugunsten der Politik brach bei ihm da eine Entwicklung ab, an die er später, unter persönlich wesentlich ungünstigeren Bedingungen, nicht mehr anzuknüpfen vermochte. Für die linke Zürcher Wochenzeitung «ABC» verfasste er 1937 dafür drei grosse, weite Beachtung findende politische Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Mit «Señor Ernesto» ­ Hemingway ­ und Joris Ivens, der den Dokumentarfilm «Spanish Earth» drehte, lag Vaucher vor Ma-drid in den Schützengräben. Einmal riss eine Granate einen Teil des Hotels weg, in dem Vaucher, ohne das Geringste zu merken, schlief. Ein andermal wäre er von den Anarchisten als vermeintlicher Spion beinahe an die Wand gestellt und erschossen worden. Auf einer zweiten Reise nach Spanien 1938 lotste er mit gefälschten Papieren eine geheime Zugladung mit umgeleiteten «Bührle-Waffen» für die verzweifelt gegen Franco und die deutsche Legion Condor kämpfenden Regierungstruppen durch den Tunnel unter den Pyrenäen ins spanische Port-Bou. Die französischen Zöllner, welche die Fracht hätten kontrollieren sollen, machten Vaucher und sein spanischer Begleiter mit mitgebrachtem Wein betrunken.

Weiteren spektakulären politischen Aktionen scheint sich Vaucher von da an aber verschlossen zu haben: «Ich habe dort in dem heillosen Wirrwarr, das damals auf der linken Seite bestanden hat, wo jede Gruppe fast jede gefressen hat und nur auf ihre Vernichtung bedacht gewesen ist, gemerkt, dass es mit der sogenannten Linken hapert.» Seinen antifaschistischen Kampf verlegte er nunmehr ganz auf künstlerisches Gebiet.

Als Vauchers Mutter 1938 starb, erbte er etwa 200 000 Fr. elterliches Vermögen. Walter Matthias Diggelmann notierte in einem unveröffentlichten kurzen Porträt von C.F. Vaucher, das im Schweizerischen Literaturarchiv liegt: «1938 weiss Charles Ferdinand Vaucher nur eins in bezug auf Geld: Das Geld muss arbeiten. Man steckt das Geld nicht mehr in den Strumpf oder zwischen die Leintücher im Schlafzimmerschrank. Man investiert, sofern man Vermögen hat. Charles Ferdinand Vaucher hat Vermögen, vom Vater ererbtes, und er investiert es in die Produktion des ‹Farinet›-Filmes.»

Nach dem berühmten Roman von Ramuz über den Falschmünzer und Sozialrebellen «Farinet» drehen Max Haufler (Regie) und Vaucher (Drehbuch, Produktion) 1939/40 im Wallis mit französischer Starbesetzung einen Film, der als ein kleines Meisterwerk seinen gebührenden Platz in der Schweizer Filmgeschichte erlangt, wegen des ausbrechenden Krieges aber zum finanziellen Desaster wird. Von den in Frankreich eingespielten Einnahmen sieht Vaucher nie auch nur einen alten Franc. 1942 wird zudem bei einem Bombenangriff auf die Filmlabors von Boulogne-Billancourt bei Paris das Negativ des Films zerstört. Die von Vaucher finanzierte Filmgesellschaft Clarté-Film AG wird aufgelöst. Drehbücher für weitere geplante Filme waren schon in Arbeit. Der hoffnungsvolle Start des entschlossen auf den anspruchsvollen Qualitätsfilm setzenden Tandems Haufler-Vaucher endet im Ruin, von dem sich beide nie mehr richtig erholten.

Mit den letzten 4000 Fr. und viel Mut ­ bei 32 000 Fr. Hypotheken ­ kauft sich Vaucher 1942 in Herrliberg bei Zürich ein altes Weinbauernhäuschen. Mit der Kabarettistin und Schauspielerin Edith Carola, die er beim Cornichon kennenlernte, zieht er ein. 1943 wird ihr Sohn Jean-Jacques geboren. Da die Scheidung von Katja Wulff sich hinzieht, findet die Hochzeit erst 1947 in einem rauschenden, mehrtägigen Künstlerhappening statt, an dem Max Haufler mit einer Flasche Whisky einen ganzen Abend lang Kabarett spielt und sich die Gäste biegen vor Lachen, wie der Karikaturist H.U. Steger sich noch genau erinnert.

Vaucher hält mit dem wenigen, was ihm seine Arbeit als Kabarett-Texter und Regisseur einbringt, auch sonst offenes Haus. Brecht bleibt in jener Zeit zwei, drei Nächte bei Vaucher, ehe er sich im benachbarten Feldmeilen niederlässt. Reger Kontakt herrscht auch mit den Leuten vom Zürcher Schauspielhaus, wo Vaucher schon im Krieg hin und wieder Nebenrollen übernahm und Stücke aus dem Französischen übersetzte.

Noch während langer Jahre bleibt er zunächst im Cabaret Kaktus und für Alfred Rasser, dann noch einmal für das Cornichon und das neue Cabaret Federal sowie für das kometenhaft zu internationaler Berühmtheit gelangende Duo Voli Geiler und Walter Morath als Textlieferant und Regisseur ein Eckstein der schweizerischen Kabarett-Szene.

Das Geheimnis seiner erfolgreichsten Nummern lag wohl darin, dass Vaucher «neben allem Lachen» versuchte, «die Leute zu ergreifen». Genau dies, erklärte er 1961 einmal am Radio, sei es, «was wir heutigen Modernen sehr leicht vergessen»: «das Gemisch» von «Lachen und Tränen». «Lachen und Weinen», sagte er ein andermal, «gehören zusammen, und wer nicht weinen kann, der kann auch nicht lachen.» Sein jüngerer Kollege und Freund Max Rüeger formulierte es nach Vauchers Tod so: «In seinen Texten (...) fand er den Stil der direkten Umwege. Stand Vaucher als Autor einer Nummer im Programmheft, gab es nichts zu grinsen und nichts zu brüllen. Er machte nachdenklich, formte Fakten zu Dichtung.»

Rückzug vom HD-Läppli-Film

Doch die Kabarettarbeit war schlecht bezahlt, und um über die Runden zu kommen, nimmt Vaucher in den fünfziger Jahren von überall her Auftragsarbeiten an. Er macht Übersetzungen, organisiert als Conferencier Firmenfeste, schreibt gar Sketche für Maggi-Backpulver und tingelt mit einer Lach-Werbenummer durch die Dörfer, in welcher er als abschreckendes Beispiel einen Gugelhopf aus Gips bäckt, der sich erst mit der Axt in Stücke hauen lässt. Das Geld wird so knapp, dass seine Frau Edith Carola, die in keiner Krankenkasse versichert war, sich nicht einmal einer Meniskus-Operation unterziehen kann. 1958 gibt Vaucher, der ein führendes Mitglied der Schweizer Hobby-Koch-Bewegung war, an der Saffa, der Ausstellung «Die Schweizerfrau, ihr Leben, ihre Arbeit», an sechs Abenden «Kochkurse für Männer». Im Nachlass findet sich für das Jahr 1958 mit rotem Farbstift ein Briefchen des 15jährigen Jean-Jacques: «Lieber Paps, ich verzichte auf die 5 Fr[.] pro Woche. Du kan[n]st sie für besseres gebrauchen.»

Diese akuten Nöte erklären womöglich, warum Vaucher im Sommer 1959 nach drei Wochen Drehzeit die Regie am «HD-Läppli»-Film niederlegt, als ­ nach einer Anzahlung von Fr. 1000.­ ­ die vereinbarten wöchentlichen Fr. 1500.­ nicht ausbezahlt werden. Es kommt zu einem Unterbruch, und da bei der Wiederaufnahme der Dreharbeiten im November 1959 der Filmproduzent Werner Kägi den Vertragsverpflichtungen immer noch nicht nachkommt, lässt Vaucher die Arbeit endgültig liegen, wohl sehr schweren Herzens, hatte er doch dem Produzenten am 16.8.1959 geschrieben, er halte den Film für «eines der besten Projekte des Schweizer Films». Vaucher war ja seit 1943, der Gründung des «Kaktus», Rassers Regisseur gewesen und hatte sowohl an der Bühnenversion des Läppli wie am Drehbuch grossen Anteil. Rasser selber übernahm darauf ­ mit den von Filmkritikern beklagten Folgen ­ die Regie und rettete glücklicherweise als genialer Schauspieler den Film, der ihm als Regisseur misslang.

Vaucher wechselte danach immer mehr zur Radio- und Fernseharbeit über. Mit seinen literarischen Kochsendungen, als Radio-Briefkastenonkel und im satirischen Dialog mit der Holzpuppe «Tele-Wisel» wurde er schliesslich landesweit bekannt.

Da blieb ihm nur noch selten Zeit, an seiner Autobiographie zu schreiben. Die Manuskripte bewahrte er, wie er zu betonen pflegte, in der linken Schublade seines Schreibtischs auf, die Auftragsarbeiten lagen in der rechten. «Und das Geld aus der rechten Schublade reicht nie, um die linke zu finanzieren», notierte er mit der Maschine auf einem der Blätter. Durch Interviews, Dokumente und Fotos ergänzt, sollen diese Vaucher-Texte nun diesen Frühling endlich als Buch* herauskommen.


* Charles Ferdinand Vaucher: «Aus meiner linken Schublade». Erzählungen eines Lebens. Mit Zwischentexten von Peter Kamber. (Herausgegeben von der Studienbibliothek Zürich) Erscheinungsdatum: voraussichtlich April 1996.


Bilder im Originalartikel:

Charles Ferdinand Vaucher (19.1.1902­28.2.1972).

Die Eltern; C.F. (Familienbesitz: Jean Jacques Vaucher, Zürich)

Vaucher, 1971. (Foto: Ringier)