27. Juli 1997, Tages-Anzeiger (Seite 89)

 

Vom Kriegsgeschrei der Sonderbündler

Ein paar Bemerkungen zur "Erpressungshysterie" des Christoph Blocher

Sonderbundskrieg 1847, zeitgenössische Darstellung.

VON PETER KAMBER*

"Wo Tote zu beklagen sind, da ziemt sich ein leises Wort. Nie war für uns eine zurückhaltendere, leisere Sprache mehr Ehrensache als heute." So schrieb der sittlich ganz unbescholtene Präsident des Arbeitgeberverbandes Schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller Ernst Dübi am 7. September 1941 in der weltanschaulich ebenso unverdächtigen NZZ. Einige Spätgeborene, die mit ihrem berechnenden "Lieb-Kind-Spielen" den Altvorderen gar nicht schrill genug unter Beweis stellen können, wie nahe sie sich ihnen fühlen, scheinen diese Lektion vergessen zu haben. Selber verstohlen Knüffe austeilend und ihren Mitgeschwistern in der helvetischen Familie hässlich die Zunge zeigend, buhlen sie mit sorgfältig abgewogenen Denunziationen um die alleinige Zuwendung der mythisch überhöhten Eltern und zeigen jenen Zug der Häme, der sich früh auf Gesichtern einschneidet, die geniesserisch mitansehen lernten, wenn die durch sie Verpetzten von den Autoritätspersonen ihrer vermeintlich gerechten Strafe zugeführt werden.

Nach der Tragödie nun die Farce?

Rechtzeitig zum 150. Jahrestag rüstet sich, scheint es, die Schweiz zu einem neuen Geschwisterkrieg. Der neuen demokratischen Verfassung und der Gründung der modernen Schweiz 1848 gingen, fast hätten wir's vergessen, im November 1847 Szenen voraus, die als Sonderbundskrieg in die Geschichte eingingen. Marx, ein 1848 aus dem nördlichen Nachbarland exilierter Philosoph und noch kein wandelndes Schimpfwort, schrieb 1852, "dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen" - "das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce". Dem kindhaften Volkstribun, der seit Wochen mit dem Wort "Erpressung" auf den Lippen und noch ohne jedes Anzeichen von Kriegsmüdigkeit seine Getreuen zum Kampf gegen die für 1998 geplante Jahrhundertstiftung für die Solidarität hetzt, scheint tatsächlich auch wieder so ein "Sonderbund" vorzuschweben, ein verschworenes Bündnis für eine Schweiz, die, furchtlos bis zur Farce, vorgeblich niemand anderen nötig hat.

Christophorus, legendärer Märtyrer und Pilger, einer der vierzehn Nothelfer der alten christlichen Kirche und volkstümlicher Heiliger gegen Pest, unvorhergesehenen Tod und gefährliche Unternehmungen, glaubt an seine Mission. Als er noch einfach Blocher hiess und als Jurist im Verwaltungsrat der Schweizerischen Bankgesellschaft sass, die sich ebenfalls umbenannt hat, hatte er noch kein Gehör für die Verfolgten und Bedrängten. Weder setzte er sich für die Überlebenden des Holocaust und deren Hinterbliebene ein, die dann und wann an den Schaltern "seiner" Bank kleinlaut nach den verschollenen Konten aus der Kriegszeit fragten, noch fand er, dass die Bank unrecht tat, wenn sie damals in führender Stellung das Gold aus dem Apartheid-Staat an der Südspitze Afrikas einschmolz, umprägte und weiterverkaufte. "Jedes Handelsabkommen, jeder Bankkredit, jede neue Investition ist ein Baustein in der Mauer unserer fortdauernden Existenz", sagte 1973 in Zürich der damalige Ministerpräsident und spätere Staatspräsident Balthasar Johannes Vorster, einer dieser weissen Herrenmenschen vom Kap in Zürich, dem die notorisch goldhungrige Bahnhofstrasse mit Devisen und Kreditspritzen gegen die schwarze Mehrheit der Unterdrückten half.

Die Ähnlichkeit der Fälle

Das Nationalratsgespann Blocher und Schlüer, das jetzt unisono "Erpressung" schreit, wenn aus Grossbritannien und Amerika mit Nachdruck Aufklärung in der Affäre der nachrichtenlosen Vermögen verlangt wird, leitete in den achtziger Jahren die "Arbeitsgruppe südliches Afrika" (asa): ersterer als Präsident, letzter als Geschäftsführer. Mit Vehemenz bekämpften sie "die unsinnigen Sanktionen gegen Südafrika" (asa-Mitteilungsblatt 29. 7. 1986), welche die Weltgemeinschaft über das rassistische Regime der Unbelehrbaren verhängte. Das Wort Sanktionen bekam damals für Blocher und Schlüer bereits jenen schlechten Klang, der sie heute aufheulen lässt."Boykott ist ein Kriegsmittel", erklärte Blocher am 19. Dezember 1986 während der Südafrika-Debatte im Nationalrat.

Die Boykottdrohungen, die vor kurzem in Amerika gegen jene Schweizer Banken ausgesprochen wurden, welche der Idee einer gründlichen Suche nach mutmasslich unterschlagenen Opferersparnissen zunächst so demonstrativ wenig abgewinnen konnten, müssen Blocher, der schon in der Apartheid-Debatte dem politisch-ethischen Rigorismus der öffentlichen amerikanischen Kultur verständnislos gegenüberstand, an einem besonders wunden Punkt getroffen haben. In welchem Masse ihm die Ähnlichkeit der Fälle zu Bewusstsein kam - die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie kopiert schlechte Gewohnheiten -, ist nicht auszumachen: Das Apartheid-Gold war der scheinbar so unverfängliche Seelentest für jene, die jetzt behaupten, mit dem Nazi-Gold ein reines Gewissen zu haben.

Weil Blocher das Wort "Sanktionen" nicht buchstabieren kann, ohne diese Vergangenheit wachzurufen, spricht er lieber von "Erpressung". Ihm fehlt der Zugang zu jener ideellen Welt, in der es nach langem, vergeblichem Gespräch auch erlaubt ist, zur Erlangung von Gerechtigkeit mit Boykottaufrufen Druck auszuüben. Das böse Wort von der Erpressung, das ein Schweizer Bundespräsident in Umlauf brachte, der über Weihnachten 1996 am Fernsehen zu viele Berichte über das Geiseldrama in Lima sah und sein eigenes, verbal angegriffenes Land mit flimmernden Augen auch schon im Würgegriff von vermummten Lösegeldterroristen wähnte, transportiert seit dieser unglücklichen Stunde mit sich ein Stück Realitätsverlust - und legt mit diesem auch einen unbewussten Sachverhalt bloss, wie das jeder Realitätsverlust tut. Erpressung, so der allgemeine Sprachgebrauch, liegt vor, wenn eine anonyme Person damit droht, eine für Betroffene furchtbare Wahrheit an den Tag zu bringen, falls kein Schweigegeld bezahlt wird. Nur: Was ist denn das für eine Wahrheit, die nicht auskommen darf? Was bereitet so grosse Probleme, ausgesprochen zu werden? Welche "Wahrheit" über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg darf nicht gewusst werden?

Das Gespenst an der Wand

Der Rest in Blochers Krimi-Szenario ist klar: Das angebliche Schweigegeld ist die vom Bundesrat angekündigte Stiftung für Solidarität. Die anonymen Täterinnen und Täter hingegen macht er bloss zu Inszenierungszwecken anonym: Es sind Holocaust-Überlebende oder ihre Nachkommen, welche sich, als sie an der Bahnhofstrasse nur rumgeschubst wurden, Hilfe beim "grossen Bruder" in Amerika holten. Nicht etwa bei linken Umstürzlern, sondern beim Alter ego der Schweizer Bankiers, einem stockkonservativen Senator und Vorsitzenden der US-Bankenkommission. Das nötigte Blocher, der nicht einfach "Marxist!" plärren durfte, einige Verrenkungen ab. Um jene, die nach allem, was bekannt ist, Opfer der Schweizer Banken und Vermögensverwalter waren, in der Phantasie zu Folterern der Schweiz zu machen, stellte er alle Kulissen um. Gespielt wird nun die "Grosse Erpressung", Teil 1. Sanktionsdrohungen und legitime gerichtliche Klagen gibt es nicht mehr, das Réduit wird nachgespielt: "Die umzingelte Schweiz", Teil 2. Teil 3: "Die Entscheidungsschlacht".

Jede Thematisierung der Schuldverstrickung soll mit dem Inseratenfeldzug und der dadurch in der Bevölkerung geschürten "Erpressungs"-Hysterie verschleiert werden, obwohl doch der Eizenstat-Bericht nicht von Schuld, sondern nur von einem "Gefühl für Unrecht" spricht, und Bronfman, einer der Sprecher der Betroffenen, unaufhörlich betont, es gehe nicht um Geld, obwohl solches auf dem Spiel steht, sondern um "Gerechtigkeit". Aber nein: "Schulderpressung" wird als Gespenst an die Wand gemalt, als sei die Schweiz das Opfer eines stalinistischen Schauprozesses, das nach erfolgter Gehirnwäsche alles hersagt, was es gestehen soll. Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Landes, sprudelt es bei Blocher hervor - noch so ein Versatzstück aus dem untergegangenen Sowjetreich, eine alte Breschnew-Phrase, die jetzt noch in China bei jeder Menschenrechtskritik von aussen hervorgeholt wird.

Schon einmal, von 1943 an, sahen sich Schweizer Politiker in ihrer Vorstellung im heute bildhaft beschworenen "Schraubstock" der Alliierten. Während Reichswirtschaftsminister Walther Funk gegenüber Karl Clodius, dem Chef der Wirtschaftsabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin, den bekannten Satz aussprach, er könne "nicht einmal für zwei Monate auf die Möglichkeit verzichten, in der Schweiz Devisentransaktionen (vor allem die Umwandlung von Gold in freie Devisen) durchzuführen" (Clodius-Bericht vom 3. Juni 1943; Werner Rings, "Raubgold aus Deutschland"), bereitete sich der Schweizer Botschafter Walter Thurnheer geistig auf ein Treffen beim britischen Aussenminister Anthony Eden vor, der ihm am 5. Juni 1943 einbleute: "Jeder Franken an Kriegsmaterial, das Deutschland von der Schweiz geliefert wird, verlängert den Krieg." (Oswald Inglin, "Der stille Krieg", S. 90)

Kein Tabu

Zu entscheiden, ob die Frage der Kriegsverlängerung tabu ist oder gestellt werden darf, erübrigt sich, denn sie ist gestellt worden, lange vor der Diskussion unter uns Spät- und Nachgeborenen. Im übrigen ist sie nur eine Zuspitzung des Schulaufsatzthemas: Wie gewichtig war der Beitrag der Schweiz an die deutsche Kriegsmaschinerie?

Eine Schweiz, die sich nicht anachronistisch in den Schmollwinkel der Geschichte verkriechen will, um in Delirien Vorurteile zu Monstern auszubrüten, muss fähig sein, auf solche Fragen Antworten zu suchen. Ohne selbstgerechten Ritt in den Krieg. In zurückhaltender, leiser Sprache.

* Peter Kamber ist Autor der Bücher "Geschichte zweier Leben - Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin" (1990), "Schüsse auf die Befreier" (1993), und "C. F. Vaucher: Aus meiner linken Schublade" (1996).