14. Januar 1999, Weltwoche (Nr. 2, Seite 37


Als die Wiedergeburt des Diktators droht
Erfolgsautor Robert Harris blüht wieder auf: dank
Stalins langem Schatten
Von Peter Kamber

Die erfundene Geschichte geht von einem sehr authentischen Geschehnis aus: dem Tod Stalins am 15. März 1953. Robert Harris zeigt, wie sich der gefürchtete Chef des sowjetischen Geheimdienstes Berija die Agonie Stalins - der keinen Ärzten mehr traute und nach einem Schlaganfall in der selbstgewählten Isolation förmlich krepierte - zunutze macht, um sich mit einem Schlüssel aus Stalins Hosentasche angeblich ein geheimes Notizbuch aus dem Tresor des Kreml-Gewaltigen anzueignen. Da Berija schon im Juni 1953 gestürzt und dann auch umgebracht wurde, erzählt Harris die Geschichte aus der Perspektive von dessen einstigem Leibwächter. Dieser vertraut sich im Russland Jelzins einem in einer Schaffenskrise steckenden britischen Historiker namens Kelso an, kurz bevor er als letzter Zeuge selber eines sehr gewaltsamen Todes stirbt.

Ein Neugeborenes als Altlast

Mit Hilfe der Tochter dieses Leibwächters, die Harris etwas grell als Studentin der Rechte zeichnet, die sich den Ausbruch aus der neuen russischen Misere auf dem Edelstrich in Moskaus Nachtklubs verdient, schafft es der unorthodoxe, zigaretten- und alkoholabhängige Historiker Kelso, das Geheimnis dieses jahrzehntelang vergrabenen Notizbuches zu lüften, das sich allerdings als Tagebuch einer damals vom Parteiapparat sorgfältig ausgesuchten jungen Bediensteten Stalins entpuppt, die dieser vergewaltigt hatte, um auf diesem Wege noch einen letzten Nachkommen zu hinterlassen. Mächtige Alt- und Neo-Stalinisten, die sich um eine Zeitung namens «Aurora» scharen und ihre Putschabsichten kaum verhehlen, treten als willige Vollstrecker dieses letzten Planes Stalins auf, ebenso ein windiger amerikanischer Fernsehreporter O'Brien mit tragbarer Video-Bearbeitungs- und Satellitenübertragungs-Installation, der sich aus Publizitätssucht zum Werkzeug der roten Faschisten machen lässt. Zum Glück wird die Wiedergeburt Stalins, die - schon früh selbst grausam und mörderisch tätig - als Wald- und Wildkind in der Nähe von Archangelsk am Weissen Meer aufwächst und mit den Redefloskeln seines Vaters im Kopf schon im Triumphzug nach Moskau fährt, gerade noch rechtzeig vor Ende des Romans von der erwähnten Tochter von Berijas einstigem Leibwächter niedergestreckt…

Solange die Leute lieber spannende Romane als langweilig geschriebene Geschichtsbücher lesen, ist die Frage müssig, ob Fiktion die Hölle eines Terrorsystems wie des Stalinismus abbilden kann, ohne sie zu banalisieren.

Die Vermittlung des Grauens des stalinistischen Herrschaftssystems und seiner Nachwirkungen bis in die Gegenwart gelingt über weite Strecken recht gut. Sicher, das Buch flacht nach den Schockeffekten des Anfangs im Mittelteil etwas ab, weil die schlimm-bösen Stalinisten allzulange nicht mehr auf der Bildfläche erscheinen, doch der mit viel historischem Wissen angereicherte neue Harris ist gewiss nicht als banal abzutun.

Thriller mit historischem Sachverstand

Robert Harris, 41 Jahre alt, hat in Cambridge Geschichte studiert und wurde 1992 mit «Vaterland» auf einen Schlag berühmt - einer kontrafaktischen Geschichte über Nazi-Deutschland, das überraschend den Krieg gewann und 1964 im Zeichen des nuklearen Patts gerade erfolgreich eine «Entspannungs»-Politik mit den Vereinigten Staaten einfädelt, als die absolut geheimgehaltene Vernichtung der europäischen Juden durch die hartnäckigen Recherchen eines Berliner Kripo-Beamten, der diese Wühlarbeit mit dem Leben büsst, und einer amerikanischen Journalistin, der die Flucht gelingt, doch noch publik wird.

Krankte «Vaterland» noch an Plausibilitätsproblemen - bekanntlich hatten es ja die verfolgten polnischen Juden selbst geschafft, die Welt zu alarmieren, obwohl diese ihnen das Gehör zunächst verweigerte -, so erwies sich der zweite Roman von Robert Harris, «Enigma» (1995) - ein Agentenroman, der während der U-Boot-Schlachten des Zweiten Weltkrieges im britischen Dechiffrierzentrum Bletchley Park spielt - als rundum geglückt.

In «Aurora» paart sich wiederum fundiertes historisches Wissen mit einer seltenen Gabe zu weitgespanntem Geschichtenerzählen. Da sind gewisse dramaturgische Schwächen und stilistische Klischees - wie etwa die leidigen Tiermetaphern zur Charaktierisierung von Negativgestalten im neuesten Buch und die Manie, jede einzelne der von den Figuren gerauchten Zigaretten aufzuzählen und als Stimmungshöhepunkte zu verkaufen - allemal zu verschmerzen.


Robert Harris: Aurora. Roman. Heyne-Verlag, 1998. 462 Seiten, Fr. 41.-

Bild: Zweierlei Stiefel: sowjetische Relikte und ein Roman, in dem sie weiterleben

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