Wen wir wann am Ton der Sprache und an den Taten erkennen
Wie leicht mit fremdenfeindlichen Verbalattacken und Plakat-Hetze zusätzliche Prozentpunkte bei Wahlen zu gewinnen sind, konnten die rechtsnationale Alternative für Deutschland und die Pegida lange Zeit an der nationalkonservativen, europafeindlichen Schweizerischen Volkspartei (SVP) absehen (die lange darauf aus war, in der Eidgenossenschaft eine „Tyrannei der Mehrheit“ zu errichten, wie der Zürcher Grüne Balthasar Glättli einmal formulierte).
Unter den diversen sprachlichen Anleihen zumindest scheint ein ganz bestimmtes AfD/Pegida-Schlagwort unverwechselbar auf diesen schweizerischen SVP-Ursprung zurückzugehen – kenntlich an der besonderen Absurdität und der Verwendung als Totschlag-Argument: Die Entgegnung nämlich, wer sie – im Sinne der alten deutschen Sage aus Hameln – „Rattenfänger“ nenne, bezeichne ihre Wählerinnen und Wähler damit im gleichen Zug als „Ratten“.
Dabei weiß jedes Kind, dass der um seinen Lohn betrogene Rattenfänger aus dem Mittelalter mit seiner Pfeife nur deshalb zum Schreckensbild wurde, weil er rachsüchtig wiederkehrte, um beim zweiten Mal junge Menschen und Kinder hinweg zu locken – nicht nochmals Ratten und Mäuse.
Armin-Paul Humpel, AfD-Vorsitzender in Niedersachsen, schleuderte dessen ungeachtet kürzlich in einer Deutschlandfunk-Diskussionssendung (8.2.2016) einem sozialdemokratischen Gegner wegen des „Rattenfänger“-Vergleichs entgegen: „Sie diffamieren uns als Ratten“, „als Rattenfänger“, das sei „kein demokratischer Diskurs, das ist nur noch übelste Beleidigung“, „eine Hetze gegen uns“. Uwe Junge, Spitzenkandidat der AfD in Rheinland-Pfalz blies in einer anderen Live-Diskussion des Deutschlandfunks (3.2.2016) gegenüber einem weiteren SPD-Mann, abgehackt, in dasselbe Horn: „Die SPD spricht von Rattenfängern. Wenn ich ein Fänger bin: in Ordnung. Aber wenn Sie bezogen auf 10% – wenn man davon ausgeht, in Rheinland-Pfalz, von 300.000 Bürgern in Rheinland-Pfalz – von Ratten sprechen, Bürger genau wie Sie, dann ist das nicht in Ordnung.“
Lutz Bachmann behauptete an der Pegida-Veranstaltung vom Montag, 19.10.2015 in Dresden über Justizminister Heiko Maas (SPD) schon dasselbe – insofern ist die Verwendung dieser auffallenden Rhetorik auch in hohem Maß charakteristisch für die propagandistische Übereinstimmung zwischen AfD und Pegida. Bachmann ist im Deutschlandfunk-Mitschnitt, der am 20.10.2015 gesendet wurde ("Pegida - Am Tag danach“), zwar an zwei Stellen nur schwer zu verstehen, doch der Rest der Aussage ist unzweifelhaft: „(...) ein Justizminister, dessen Wortschatz doch sehr an den des NS-Regimes aus den Dreißigern erinnert, der uns [?] als Rattenfänger bezeichnet und folglich [?] euch alle als Ratten, so wie es in den Dreißigern geschehen ist, als die Juden als Ratten bezeichnet wurden vom Regime; genauso macht das unser Justizminister mit uns allen momentan.“
Ausgedacht hatte sich diese Keulen-Rhetorik – wenn auch ohne den Bachmann’schen NS-Vergleich – ursprünglich der Schweizer Roger Köppel, und zwar in einem Editorial seiner rechtsgewendeten, einstmals überparteilich-liberalen „Weltwoche“ (Nr. 41, 8. Oktober 2014): Einem für Medizinaltechnik bekannten Schweizer Unternehmer (Hansjörg Wyss), der vor der SVP als den „Rattenfängern in Seldwyla“ warnte, warf Köppel damals „die erstaunliche Abgeschmacktheit seiner Vorwürfe und Sprachbilder“ vor: „Er beleidigt vor allem eine Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die er anscheinend für so dumm und für so unmündig hält, dass sie ‚Rattenfängern’ hinterherlaufen. Nur Ratten lassen sich von Rattenfängern fangen. Die Schweizer aber sind keine Ratten.“
Klarer Denkfehler Köppels: Die Grimm’sche Sage und die unzähligen Vorgängererzählungen seit dem Mittelalter reden eindeutig von Kindern (vgl. Hans Dobbertin, Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage, 1970; Wolfgang Mieder, Der Rattenfänger von Hameln. Die Sage in Literatur, Medien und Karikaturen, 2002).
Seltsamerweise verwendete Roger Köppel vor einiger Zeit in der Talkshow bei Sandra Maischberger (27.1.2016) den Ausdruck „Rattenfänger“ dann aber doch auch wieder selbst – für Rechtsextremisten, von denen er sich und seine SVP abgrenzt, obwohl er ideologisch so weit rechts außen streut, wie es seiner Meinung nach gerade noch ungestraft geht.
In der politischen Rhetorik der Neuzeit steht der Ausdruck Rattenfänger für einen Verführer, Scharlatan und Hetzer, dem die Massen wie hypnotisiert nachlaufen. Der österreichische Romanautor Johannes Freumbichler (1881-1949) – heute vor allem noch bekannt als der Großvater des wortgewaltigen Autors Thomas Bernhard – , etwa hielt 1948 in seinen Notizbüchern fest: „Daher fallen die Millionen Dummköpfe einem solchen Rattenfänger wie Hitler zu. Es ist die Dummheit, die sie ihm zutreibt. Sie sehen sich in ihm wiederum selbst, ins Maßlose vergrößert. Er ist ihnen das, was sie selber gerne sind und sein möchten: Ein befehlender, tyrannischer Stiefelmensch.“ (zit. nach Bernhard Judex, Der Schriftsteller Johannes Freumbichler, 2006, S. 162f)
Thomas Bernhard sebst bezeichnete schon mal auch Goethe als „philosophischen Rattenfänger“, der den Deutschen „ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat“ (zit. nach www.zeitlupenbaer.de), weil Goethe – mit anderen – im frühen 19. Jahrhundert den Rattenfänger von Hameln in einem Gedicht romantisierte. „Ich bin der wohlbekannte Sänger,/ Der vielgereiste Rattenfänger“ (Goethe, „Der Rattenfänger“, 1804). Noch Carl Zuckmayer versuchte in seinem allerletzten Theaterstück „Der Rattenfänger“ (uraufgeführt 11.2.1975 am Schauspielhaus Zürich) dasselbe und präsentierte die Figur als eine Art Hippie, doch erfolglos: Wut, die in Gewalt umschlägt, lässt sich nicht mehr positiv wenden.
Noch um 1700 herum galt der Rattenfänger aus Hameln den meisten Kommentatoren als „ein böser Geist“, als „Hexenmeister“ oder gar als „der leidige Satan“ selbst. Er zählte klar zum dämonischen Typus: Elemente älterer Teufelssagen flossen sukzessiv in die Sage ein.
Der Rattenfänger kann Töne anzustimmen, welche die Leute um den gesunden Menschenverstand bringen – sie merken nicht, wie er ihnen den Tod bringt.
In den „Deutschen Sagen“ (1816/18) der Brüder Grimm hieß die Geschichte bekanntlich „Die Kinder von Hameln“: „Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er (…) gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien.“ Der Rest der vielfach übersetzten Sage ist Allgemeingut. Wikipedia behauptet, „dass mehr als eine Milliarde Menschen sie kennen“.
„Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so dass er zornig und erbittert wegging.“
Es ist also die Geschichte einer furchtbaren Wut, die zu einer unmäßigen Rache führt. Die Gebrüder Grimm weiter: „(…) erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers erschrecklichen Angesichts mit einem roten, wunderlichen Hut und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an, in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Burgermeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand.“ (zit. nach: Heinz Rölleke, Das große deutsche Sagenbuch, Artemis & Winkler, Zürich 1996)
Der Rattenfänger übersteigt also an Schrecken bei weitem den ebenfalls Grimmschen Wolf im Schafspelz oder den Lafontaine’schen schmeichlerisch-lügenhaften Fuchs: die Gestalt lädt eine unablösbare Schuld auf sich. Psychologisch passt die Sagenfigur durchaus zur Wutgetriebenheit der AfD/Pegida, und es ist hoch bedeutsam, mit welcher Vehemenz deren Exponenten gerade diese Ähnlichkeit bestreiten.
Ein Phantasma wirkt, solange es unbewusst bleibt und Konsequenzen verdrängt werden können. Von Wortbruch reden auch sie, und in ihrem Zorn haben sie der bestehenden Parteienlandschaft Rache geschworen; wohin sie bestimmte Personen führen möchten, sagen einzelne auf mitgeführten Plakaten erschreckend offen. Nur an „Zaubermusik“ erinnern ihre Reden nicht:
„Der Stadt drawet [droht] sein Zorn und Rach“, schilderte im Jahr 1595 ein Erzähler der Sage, Georg Rollenhagen, und wegen der Verfluchungen, die der Rattenfänger äußerte, konnte er auch nur „heimlich“ vorgehen, während die Leute „in der Kirchen saßen“: „War der Mann widder [wieder] auff der Gassen / Und fü[h]rt mit sich hinauß geschwind / Hundert und dreißig liebe Kind / Die seiner Pfeiff folgten (…).“
Zum „Rattenfänger“ gehört von Anfang an die Heimtücke – wie jene, die in nächtlichen Anschlägen auf Asylunterkünfte zum Ausdruck kommt, bin ich verpflichtet zu sagen.