Aus Anlass der Uraufführung des René Pollesch-Stücks "Bühne frei für Mick Levčik!" am Zürcher Schauspielhaus am 22. Mai 2016 hier ein bereits im Mai 2015 entstandenener Text von mir; in seinem neuen Stück bringt René Pollesch nach einer Idee des leider inzwischen verstorbenen Bert Neumann zusammen mit Barbara Steiner das Bühnenbild der Antigone-Inszenierung Bertolt Brechts aus dem Jahre 1948 zurück auf die Bühne (weitere Aufführungen: 30. Mai/ 8./17./21./26. und 27. Mai 2016)
„Und es ist Zeit für ein Theater der Neugierigen!“ (Brecht, „Antigonemodell 1948“)
Bertolt Brechts „Antigone“-Neufassung fiel bereits in den Kalten Krieg und sorgte für einen Theaterskandal – aus der geplanten Großtournee wurde nichts, denn die GeldgeberInnen sprangen ab. Als Quintessenz des Theaterexperiments schrieb Brecht noch gleichen Jahres in der Schweiz das legendäre „Kleine Organon für das Theater“. Werner Wüthrich schildert diese aus dem Bewusstsein geratenen Augenblicke der Theatergeschichte in einer minutiösen Rekonstruktion, die neue Denkräume eröffnet und dazu verführt, Brecht frisch zu lesen.
Die „Wirklichkeit zu zeigen“ sei „zum Genuss zu machen“, so formulierte Brecht 1948 seine eigenen Ansprüche bei der „Antigone“ in Chur. Das Thema der Sophokles-Tragödie nahm Brecht bitterernst: „die Rolle der Gewaltanwendung bei dem Zerfall der Staatsspitze“ wollte er als Regisseur aufzeigen, und zwar unverkennbar aus der Erfahrung des Zusammenbruchs des NS-Regimes. Gewalt, so notierte er in seinem „Journal“, erwachse aus der „Unzulänglichkeit“ (5.1.1948). Die „Struktur der Gesellschaft“ wollte er als „beeinflussbar“ zeigen („Das kleine Organon“, Nr. 33). Die Chancen für einen Erfolg standen nicht schlecht: Brecht war ein bekannter Autor, kehrte soeben aus dem Exil in den USA zurück, wo der McCarthy-Geist ihn vertrieben hatte, und Europa erwartete eine grundlegende Erneuerung der Kunst. Oder doch nicht?
Wiederbegegnung
Auf die „Antigone“ des altgriechischen Klassikers Sophokles war Brecht durch Zufall gekommen – doch der bringt nicht immer Glück, wie Werner Wüthrich in seinem neuen Buch nachweist („Die Antigone des Bertolt Brecht“; Chronos Verlag, Zürich 2015, 358 S.) In der Zürcher Stadelhoferstraße begegnete Brecht im November 1947 nämlich dem exilierten Theaterproduzenten Hans Curjel, der ihn und Kurt Weill einst, vor dem Krieg, in Berlin zur „Mahagonny“-Oper ermuntert hatte, selbst wenn Curjel diese dann aber in der Kroll-Oper, wo er zu der Zeit noch tätig war, nicht durchbrachte. Curjel leitete inzwischen in der Schweiz eine gutgehende Tournee-Genossenschaft – und zusätzlich das kleine Churer Stadttheater. Das Haus diente allerdings mehrmals in der Woche als Kino. Lehrende am Churer Gymnasium waren mit dem Wunsch nach einem griechischen Klassiker an Curjel herangetreten, und Curjel dachte gleich an Sophokles „Antigone“ – von der Hegel einst sagte, sie sei „die reinste Ausprägung der antiken Tragödie“, schreibt Wüthrich. Brecht willigte für 1000 Franken Honorar ein, die dichterisch stellenweise „dunkle“ Antigone-Übertragung des Johann Christian Friedrich Hölderlin zu verwenden – und zu überarbeiten. Curjel stellte noch eine Bedingung: Brecht solle selbst inszenieren. Der holte sich als Ko-Regisseur den Freund aus Schulzeiten und Bühnenbildner des Zürcher Schauspielhauses Caspar Neher. Wenn Brecht bereit war, nach Chur zu gehen, dann auch, weil er und Neher von der viel gerühmten Schauspielhaus-Ästhetik enttäuscht waren. „Man steht hier immer noch im Jahre 1926“, befand Neher. Und: „Wir haben die Zerstörung Europas erlebt. (…) und hier in der Schweiz macht man das älteste Theater, was man sich denken kann.“ Gemeint war, wie Werner Wüthrich im Gespräch erläutert „der feine, poetische, psychologische Realismus des Schauspielhauses“. Der ging auf die Ästhetik von Max Reinhardt und die Schauspielmethode von Konstantin S. Stanislawski zurück. Brecht hatte die klare Absicht, mit dieser Art „Illusionstheater“ zu brechen. Mit „Psychologie“ oder auch etwa dem einflussreichen französischen Existentialismus eines Anouilh oder Sartre, der die Entscheidung eines Individuums in den Vordergrund stellte, hatte Brecht „nichts am Hut“, ergänzt Wüthrich mündlich.
Brecht änderte ziemlich viel
Bei Sophokles war der neue Herrscher der Stadt Theben eine Figur, die anfänglich noch gute Gründe für sein hartes Handeln beanspruchen zu können glaubte. Er hieß bekanntlich Kreon und war der Onkel der bitter verfeindeten, unsinnig ums Leben gekommenen Ödipus-Söhne Polineikes und Eteokles: gegenseitig hatten sie sich im kriegerischen Zweikampf getötet. Antigone war deren Schwester – und trauerte. Kreon aber war voller Zorn über den einen, Polineikes, denn der hatte aus Hass auf den eigenen Bruder und eigentlichen Thronfolger Eteokles das feindliche Argos zu einer Belagerung Thebens aufgestachelt, also einen furchtbaren Verrat begangen. Dieser Angriff konnte Theben abschlagen, aber Kreon ließ sich zu einer besonderen Grausamkeit verleiten: zur Abschreckung durfte Polineikos nicht beerdigt werden, sondern sollte als Fraß der Hunde vor den Mauern der Stadt liegen bleiben. Antigone aber bedeckte ihn heimlich mit Staub. Kreon, taub gegenüber allen Ratschlägen, verfügte ein Todesurteil über Antigone, seine Nichte, obwohl sie die Braut seines eigenen Sohn Haimon war. Sturheit und Hochmut machten Kreon zum Tyrannen. Zu spät erst bringt ihn die durch sein Tun ausgelöste tragische Verkettung – Antigone, Haimon und Kreons Frau sterben und verfluchen ihn – zur Einsicht, und als ein Niemand muss er Theben schmählich verlassen. Brecht änderte die Geschichte. Im „Antigonemodell 1948“ schreibt er: „Frage: Soll Kreon im Unglück die Sympathie des Publikums haben? – Antwort: Nein.“ Nun, bei Brecht, ist Kreon alleiniger Verantwortlicher für einen Angriffs- und Raubkrieg gegen Argos, und es ist Kreon, der Polineikos tötet, als der nach dem von Brecht erfundenen Schlachtentod seines Bruders Eteokles desertieren will. Mit deutlichen Parallelen zum deutschen Diktator verliert Kreon nach vorschnell verkündetem Sieg und verfrühtem rauschhaftem Siegestaumel schließlich den Krieg gegen Argos, will aber ganz Theben mit sich in den Abgrund reißen. Bei Brecht blieb sich nur der Antigone-Strang der Handlung gleich.
Chur zeigt sich perplex
Die Aufführung wirkte gleichzeitig überinszeniert und „sehr kalt“. Überzeugt, das Theaterexperiment gehe als Modellinszenierung auf eine lange Tournee, überließ Brecht nichts dem Zufall und arbeitete intensiv mit dem neugeformten Ensemble und an der Ausstattung. Die Aufführung sollte mit der „Mutter Courage“ den Start bilden für den Neuanfang in Berlin: zwei Hauptrollen für Helene Weigel, Brechts Frau. Fatal erwies sich, dass Brecht die Premiere zweimal verschob, weitere nunmehr öffentliche Proben zwischen einer Vorpremiere und der eigentlichen Uraufführung einschob, ohne zu bedenken, dass sich das Publikum sowieso gleich ein fertige Meinung bilden würde. Mit ein Grund war sein Wunsch, die Aufführung Bild für Bild durch Ruth Berlau, die als seine Geliebte galt, fotografisch zu dokumentieren, im Hinblick auf „Antigonemodell 1948“. Ein Missverständnis entstand insbesondere, als die Schulklassen, die in die Proben geschleust wurden und sich am O-Text von Sophokles intensiv vorbereitet hatten, Bühnenarbeiter herumhantieren sahen – und das Ensemble saß auf im Halbkreis angeordneten Bänken vor dem rotbemalten Bühnenhintergrund herum, bevor einzelne aufstanden und erst in einem grell beleuchteten kleineren Spielfläche Haltung als SchauspielerIn annahmen. Dass dies bereits die fertige Aufführung war und zum ganzen Regiekonzept des „epischen Theaters“ gehörte, hatte ihnen niemand gesagt. Die Wirkung verpuffte, schlug ins Gegenteil um: er verstehe „nichts“ von Theater, setzte sich als Meinung fest. Ohnehin wurde bei Brecht in Chur „Kommunismus“ gewittert. Folge: Nur noch eine einzige, schlecht besuchte Aufführung wurde nach der Premiere angesetzt! Auch bot die Winterolympiade in St. Moritz scheinbar Erbaulicheres. Der Churer Lehrkörper verzieh Brecht nicht, über Hölderlin „hergefallen“ zu sein: „Barbarei“, „Sakrileg“, wie wenn dem „Tell“ des Malers Hodler eine „rote Fahne“ in die Hand gedrückt würde, hieß es.
Episches Theater
Die Profis, die aus Zürich und Deutschland anreisten, waren zwar beeindruckt, aber auch etwas erschreckt „über dieses kalte, rekonstruktive Theater“ – und statt einem längeren Gastspiel räumte das Zürcher Schauspielhaus dieser brechtschen Antigone nur eine einzige Matinee-Vorstellung an. Schlimmer: Curjels Theatergenossenschaft geriet durch den Flop in finanzielle Schieflage, sein Vertrag in Chur wurde nicht verlängert. Werner Wüthrich zeigt, dass die Reaktionen in Berlin-Ost sogar noch ablehnender waren als in der Schweiz, wo die Presse immerhin auch lobende Worte fand. Nach der Übersiedlung Bertolt Brechts und Helene Weigels nach Berlin und der Bildung des „Berliner Ensembles“ – zu dem auch etliche Kräfte der Chur-Inszenierung gehörten, u.a. der junge Kreon-Darsteller –, wurde eine Aufführung dieser Antigone schlicht untersagt. (Nur 1951 in der Provinz, in Greiz/Thüringen, wurde sie an wenigen Abenden gegeben, verschwand aber gleich wieder aus dem Spielplan.) Es war kein „positives“ Stück, und die Sozialistische Einheitspartei der neugegründeten DDR setzte wie das sowjetische Vorbild auf Identifikationstheater Marke sozialistischer Realismus, nicht auf Brecht’sche reflexive Distanz und „Formalismus“-verdächtige Archaisierung. Streng wurde Stanislawskis Einfühlungsmethode verordnet, wiewohl noch zu zaristischen Zeiten entwickelt. Dabei stützte sich Brecht mit dem Begriff episches Theater harmlos genug auf Schiller, der seinem Freund Goethe am 26.12.1797 schrieb: „Die dramatische Handlung bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst (…). Bewegt sich die Begebenheit vor mir, so bin ich streng an die sinnliche Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert alle Freiheit, (…), alles Nachdenken ist mir versagt, weil ich einer fremden Gewalt folge. Beweg ich mich um die Begebenheit, die mir nicht entlaufen kann, so kann ich (…) nach meinem subjektiven Bedürfnis mich länger oder kürzer verweilen, kann Rückschritte machen oder Vorgriffe tun und so fort.“ (zit. nach: „Antigonemodell 1948“). Brecht suchte dann in den „Stanislawski-Studien 1951-1954“ einen Kompromiss zwischen seiner Ästhetik und jener des berühmten, 1863 geborenen und 1938 verstorbenen Russen. In den „Nachträgen zum ‚Kleinen Organon’“ des Jahres 1954 gab er den Begriff „episches Theater“ schließlich auf.
PS: Im Schlusssatz des „Kleinen Organon“ (1948) hielt Brecht fest, „die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst“. Im „Antigonemodell 1948“ jedoch, der nachträglichen Dokumentation der Aufführung, meinte er, KünstlerInnen täten gut daran, „nicht blindlings auf die Beteuerung zu vertrauen, dass Neues willkommen sei“.
Werner Wüthrich: Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948 (Chronos Verlag, Zürich 2015, 358 Seiten, 70 Abbildungen)