Wie der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Armin Pfahl-Traughber am 26. Mai 2016 auf der Internetplattform haGalil.com („Jüdisches Leben online“) enthüllte, bezog sich der AfD-Vertreter im Landtag von Baden-Württemberg Wolfgang Gedeon abstruserweise in einem 2009 erschienenen Buch auf ein seit Jahrzehnten als Fälschung entlarvtes antisemitisches Pamphlet aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, nämlich die berüchtigte zaristisch-geheimdienstliche Fälschung „Die Protokolle der Weisen von Zion“. Gedeon aber behauptete, indem er die ganze historische Forschungsliteratur ignorierte: „Die Protokolle sind mutmaßlich keine Fälschung“.


Prof. Armin Pfahl-Traughber, der die Aufmerksamkeit auf Gedeons Anfälligkeit für diese längst überwunden geglaubte Verschwörungstheorie lenkte, ist Herausgeber des „Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung“ und bezeichnet die „Protokolle der Weisen von Zion“ als die „am weitesten verbreitete antisemitische Schrift“. Gedeon hatte sein dreibändiges Buch 2009 unter dem Pseudonym W. G. Meister veröffentlicht; es trug den Titel „Christlich-europäische Leitkultur. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam“. Nach Bekanntwerden des Skandals spaltete sich die baden-württembergische AfD-Fraktion; der größere Teil der AfD-Mitglieder tritt seither ohne Gedeon als „Alternative für Baden-Württemberg“ auf; erst danach zeigte sich Wolfgang Gedeon bereit, vorläufig aus der Rest-AfD-Fraktion auszutreten, behält aber sein Landtagsmandat. „Der große Knall“, so titelte die „Stuttgarter Zeitung“ (6. Juli 2016) zu diesen Vorgängen innerhalb der rechtspopulistischen „Alternative für Deutschland“. Der Berliner „Tagesspiegel“ (10. Juli 2016) zitierte unter dem Titel „AfD fürchtet den Zerfall“ den AfD-Mitbegründer Konrad Adam mit den Worten, der „öffentliche Machtkampf“ habe „ein existenzbedrohendes Ausmaß angenommen“. Der Ko-Vorsitzende der AfD, Jörg Meuthen, selbst Baden-Württemberger, der auf den Ausschluss Gedeons aus der Landtags-Fraktion gedrängt hatte und nun die Fraktion „Alternative für Baden-Württemberg“ anführt, erklärte dem „Tagesspiegel“ (10. Juli 2016): „Es ist eine existentielle Frage, ob es uns gelingt, uns glaubhaft von Extremismus und Antisemitismus abzugrenzen.“ Der „Süddeutschen Zeitung“ (21. Juni 2016) zufolge soll eine von der AfD bestimmte Kommission bis September 2016 prüfen, welche Konsequenzen die früheren Veröffentlichungen für den AfD-Abgeordneten Gedeon haben sollen. Bei einer Anhörung wird Wolfgang Gedeon, der von sich sagt, nicht antisemitisch zu sein (was ja nur zu hoffen ist), insbesondere die Frage beantworten müssen, wie um alles in der Welt er 2009 dazu kam, auf einen der übelsten Antisemiten der NS-Zeit, Ulrich Fleischhauer, hereinzufallen und im besagten Buch zu erklären, er halte „die Beurteilung Fleischhauers“ in Sachen „Protokolle“ – diesem fürchterlichen, damals im zaristischen Russland zu Pogromen führenden Pamphlet – „für plausibel“.

 

Für die besagte Kommission dürfte ein eben erst im Mai 2016 in der Schweiz erschienene Biografie eine zentrale Rolle spielen. In ihrem Buch „Für Recht und Würde. Georges Brunschvig: Jüdischer Demokrat, Berner Anwalt, Schweizer Patriot (1908-1973)“ hat die Historikerin Hannah Einhaus nämlich den zwischen 1933 und 1935 in Bern durchgeführten Gerichtsprozess gegen die „Protokolle der Weisen von Zion“ nochmals ganz neu aufgearbeitet. Zu diesem Prozess war es gekommen, nachdem Schweizer Nazi-Anhänger, die sich in u.a. in der „Nationalen Front“ und im „Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen“ organisierten, am 14. Juni 1933 im Berner Casino an einer Versammlung, in der sie „mit stramm ausgestrecktem rechtem Arm“ (Hannah Einhaus, S. 41) grüßten, auch „Exemplare des Pamphlets ‘Die Protokolle der Weisen von Zion‘“ verkauften. Die jüdische Gemeinde Berns sah, so die Historikerin Hannah Einhaus, „den Zeitpunkt gekommen, rechtlich gegen die Frontisten vorzugehen“. Dafür bot das bernische Recht eine Grundlage: Es verbot nämlich in Artikel 14 sogenannte „Schundliteratur“. Hannah Einhaus ( S. 44): „Verboten war demnach ‘die Drucklegung, der Verlag, die Feilhaltung, der Verkauf, die entgeltliche Ausleihe, die öffentliche Ausstellung und Anpreisung sowie jedes andere Inverkehrbringen von Schundliteratur, insbesondere von Schriftwerken, deren Form und Inhalt geeignet sind, zur Begehung von Verbrechen anzureizen oder Anleitung zu geben, die Sittlichkeit zu verderben, das Schamgefühl gröblich zu verletzen, eine verrohende Wirkung auszuüben oder sonst wie groben Anstoß zu erregen.‘“ Der junge, am 21. Februar 1908 in Bern geborene Anwalt Georges Brunschvig führte vor Gericht die Klage, zusammen mit dem Berner Rechtsprofessor Hans Matti. Unterstützt wurden sie durch ein Aktionskomitee, das bereits im April 1933 gegründet worden war. Den „inneren Kreis“ der Kläger, so Hannah Einhaus (S. 45), bildete eine „vierköpfige Juristenkommission“, zu der neben Brunschvig und Matti auch der Anwalt Boris Lifschitz gehörte, der ursprünglich aus der Ukraine stammte und perfekt Russisch sprach, aber längst in der Schweiz eingebürgert war und „den Ruf eines Staranwalts“ besaß (Hannah Einhaus, S. 39/44). In Vorbereitung des Prozesses übernahm Lifschitz, so schreibt Hannah Einhaus (S. 45f) weiter, „die Aufgabe, Quellen und Beweise in Russland zu suchen, welche dazu beitragen sollten, die Echtheit der ‘Protokolle‘ in Frage zu stellen und die Fälschung zu entlarven.“

 

„Protokolle der Weisen von Zion“: seit 1921 als Fälschung bekannt

 

Der englische Journalist Phillip Graves hatte in einer Artikelreihe der „Times“ schon 1921 den Nachweis geführt, dass die „Protokolle“ gefälscht waren. Hannah Einhaus führt aus (S. 46): „Ein russischer Informant hatte ihm [Phillip Graves] eine französische Schrift ohne Buchdeckel überreicht, die 1864 anonym in Genf veröffentlich worden war. Im ‘Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu‘ stritten sich die beiden Philosophen in 25 Dialogen. (…) Der Text stammte aus der Feder des französischen Autors Maurice Joly. Mit diesem literarischen Kunstgriff verpackte er [Maurice Joly] seine bissige Kritik am Machthunger Napoleons III [1808-1873]. Der Informant zeigte, dass rund zwei Drittel der ‘Protokolle der Weisen von Zion‘ aus diesem Büchlein wörtlich abgeschrieben und auf Juden umgemünzt worden waren. Aus anderen Abschnitten war ersichtlich, dass die umgeschriebenen ‘Protokolle‘ und die ergänzenden Texte mehr als einen Autor haben mussten. Graves hatte den Fälschungsbeweis faktisch bereits erbracht. Doch dies verhinderte nicht, dass die ‘Protokolle‘ 1922 in einer von Theodor Fritsch herausgegebenen deutschen Übersetzung in Umlauf kamen. Brunschvig versuchte Graves als Zeugen für den Prozess zu gewinnen, musste sich aber mit einer eidesstattlichen Erklärung begnügen, mit der Graves seine Aussagen von 1921 bestätigte. In der Folge gelang es Brunschvig und Lifschitz, rund ein Dutzend Zeugen zu ermitteln und für Aussagen vor Gericht zu gewinnen.“


Die erste der insgesamt drei Hauptverhandlungen in Bern fand am 16. November 1933 statt. „Die erste Befragung der Angeklagten im November 1933“, so Hannah Einhaus (S. 47) verlief „ergebnislos“. Die Schweizer Frontisten scheiterten bei der Suche nach einem „Experten“. Hannah Einhaus (S. 46): „Der Fälschungsbeweis war demnach schon erbracht, doch die große Herausforderung bestand nun in der Suche nach der Urheberschaft.“ In einem russischen Buch, so notierte Brunschvig in einer persönlichen Notiz vom 8. Januar 1934, das ihnen Lifschitz übersetzte, stießen sie darauf, „wie der Fälschungsakt in Paris durch Agenten der Ochrana gemacht wurde“ (Georges Brunschvig, 8.1.1934). Hannah Einhaus weiter (S. 46ff): „Bei der Ochrana handelte es sich um den zaristischen Geheimdienst, der in Paris einen Ableger hatte, um die dortigen Exilrussen, oft Intellektuelle und Linke, zu observieren. (…) Bis Oktober 1934 hatten Brunschvig, Matti, Lifschitz und die weiteren Juristen alles bereit für die zweite Hauptverhandlung. Die Expertisen (…) waren geschrieben und die Zeugen aus Russland, Frankreich, Schweden, Rumänien, England, den Niederlanden und der Schweiz angereist, um über die Herkunft der ‘Protokolle‘ auszusagen. (…) Als ersten Zeugen führte Georges Brunschvig Chaim Weizmann, später Israels erster Staatspräsident, in den Zeugenstand.“ Bekanntlich behaupteten die „Protokolle der Weisen von Zion“, während des ersten Zionistenkongresses 1897 seien, so resümiert Hannah Einhaus (S. 43), „hinter verschlossenen Türen“ angeblich „Pläne für eine Weltherrschaft geschmiedet und in den ‘Protokollen‘ niedergeschrieben worden“. Weizmann hatte zwar nicht selbst am Kongress teilgenommen, doch kannte er alle wirklichen Protokolle des Kongresses. Hannah Einhaus (S. 48ff) über Weizmanns Aussage in Bern: „Nein, Geheimsitzungen habe es dort nicht gegeben, ein Plan zur Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft sei nie Thema gewesen, nur die Errichtung einer jüdischen Heimstätte. Alle Aussagen weiterer Zeugen zum Zionistenkongress deckten sich mit denen Weizmanns. (…) Still wurde es im Saal, als der Stockholmer Oberrabbiner Markus Ehrenpreis den Zeugenstand betrat. Er war an der Organisation des Zionistenkongresses beteiligt. ‘Diese ‘Protokolle‘ sind nicht nur eine Fälschung der Protokolle des Zionistenkongresses, sie sind eine Fälschung des Judentums, des jüdischen Volkes, seines Charakters, seines Lebens in 3000-jähriger Geschichte. (…) Jeder Einzelne von uns 16 Millionen Juden in der Welt ist in seiner tiefsten Ehre befleckt, verletzt durch diese schändliche Agitation, die gar nicht aufhört, von Land zu Land zu gehen.‘“

 

Zum Verlauf der zweiten Hauptverhandlung am 29. Oktober 1934 schreibt Hannah Einhaus (S. 50f):  „Über die Geschichte der ‘Protokolle‘ und deren Verbreitung in Russland sagte als Erster der französische Graf Armand Alexandre de Blanquet du Chayla aus. Er war 1909 nach Russland emigriert, zur griechisch-orthodoxen Kirche konvertiert und hatte mit einem gewissen Sergei Nilus einige Jahre im Kloster Optina Pustyn verbracht. Nilus war derjenige, der die ‘Protokolle‘ 1901 als Anhang der Publikation ‘Das Große im Kleinen, der herannahende Antichrist und das Reich des Teufels auf der Erde‘ und 1905 als eigenständige Publikation in Russland in Umlauf brachte. Laut du Chayla war Nilus ‘zwar ein intelligenter Mensch, aber ein Paranoiker, der von der Idee vom Nahen des Antichrist besessen war‘, und einer, der an übernatürliche Kräfte glaubte. Nilus habe ihm gestanden, der Leiter des russischen Geheimdienstes Ochrana in Paris, Pjotr Ratschkowsky, habe ihm die gefälschten ‘Protokolle‘ auf Umwegen zukommen lassen. An deren Echtheit habe Nilus wohl zeitweise selbst gezweifelt (…). Du Chayla bestätigte vor dem Gericht, dass die ‘Protokolle‘ zur Anstiftung von Pogromen dienten. Das Pogrom von Kischniew im Jahre 1903, die Pogrome zur Zeit der ersten provisorischen Regierung 1905, die Pogrome gegen Hunderttausende von Juden in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution von 1917 und die Pogrome nach der Machtübernahme durch die Bolschewiken: immer wieder nannten die Zeugen die ‘Protokolle‘ als wichtige Quelle, um antisemitische Hetze gegen jüdische Sündenböcke zu schüren. Der jüdische Advokat Henri Sliosberg, noch zur Zeit des Zaren juristischer Berater im Innenministerium, schloss sich du Chayla an. Kurz nach 1900 erhielt er den Auftrag, eine Expertise über die ‘Protokolle‘ anzufertigen, und kam damals zum Schluss, dass Juden immer Sündenböcke gewesen seien, wenn irgendwo im weiten Russland etwas schiefging. (…) Nach seiner Meinung dienten die ‘Protokolle‘ dazu, die demokratischen Strömungen in Russland zu unterlaufen.“ Hannah Einhaus (S. 51f) weiter: „Was mit den ‘Protokollen‘ geschah, nachdem sie von Nilus nach Russland eingeführt worden waren, war im Gerichtssaal des Berner Amtshauses weitgehend klar geworden. Doch wie waren sie entstanden? Der Geheimdienstchef Ratschkowsky (…) ließ im Auftrag des Zaren Alexander III. die Exilrussen bespitzeln und arbeitete dabei eng mit dem Pariser Polizeichef zusammen. Dessen Frau führte einen Salon, in dem auch Russen verkehrten. Die Vermutung liegt nahe, dass Ratschkowsky dort ein- und ausging. (…) Wie die ‘Protokolle‘ entstanden, erfuhr das Publikum im Gerichtssaal durch die Aussagen des nächsten Zeugen, des russischen Rechtsgelehrten und Journalisten Sergei Swatikow. Ratschkowskys enger Mitarbeiter und Mitwisser Heinrich Bint hatte ihm in Paris die Details erklärt, berichtete Swatikow vor Gericht. Er ließ in der Befragung im Zeugenstand durch Brunschvig keine Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei den ‘Protokollen‘ um eine Fälschung handelt. Von der provisorischen Regierung 1917 war er als Polizeikommissar nach Frankreich geschickt worden, um die zaristische Ochrana aufzulösen. Im Pariser Büro habe ihm Bint den Hergang der Fälschung erklärt. Swatikow nannte das Werk von Maurice Joly ‘Dialog in der Hölle‘ als Vorlage für die ‘Protokolle‘ und bestätigte damit Philipp Graves‘ Darstellung in der Londoner ‘Times‘ vom Jahr 1921. ‘Die Protokolle sind eine Fälschung‘, äußerte er kategorisch, sie griffen die Nationalehre Russlands an. ‘Dies ist eine Lüge, eine Legende, eine Fälschung von dem Schurken Ratschkowsky hergestellt. Darum ist es für uns wichtig, zu hören, was dieses ganz unabhängige Tribunal des freien Volkes des freiesten demokratischen Landes zu dieser Sache sagen wird.‘“

 

Der furchtbare „Experte“ Ulrich Fleischhauer aus Erfurt 1934 im Berner Prozess

 

Auch bei dieser Hauptverhandlung sahen sich die Schweizer Nazi-Anhänger nicht in der Lage, irgendeinen Nachweis zu erbringen, der für das Pamphlet sprach. Hannah Einhaus schreibt (S. 54): „Nach langem, vergeblichem Suchen präsentierten sie am dritten Verhandlungstag doch noch einen Experten namens Ulrich Fleischhauer.“ Es war ein Oberstleutnant a. D. aus Erfurt, der dort „mit seinem ‘Weltdienst‘ eine wichtige Propagandamaschine des ‘Dritten Reiches‘ betrieb“. Das Berner Gericht hätte, so Hannah Einhaus (S. 54), „den Prozess noch gerne im selben Jahr [1934] abgeschlossen, doch bereits zeichnete sich ab, dass die Nationalsozialisten und Frontisten auf eine Verschleppungstaktik setzten. Mehrmals bat der Mann aus Erfurt um Fristverlängerung für seine Expertise, welche ihm der Richter auch gewährte. Erst im Mai 1935 konnte das Verfahren weitergeführt werden.“


Eben auf diesen Ulrich Fleischhauer – bis 1933 Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, laut Wikipedia seit 1. April 1942 NSDAP-Mitglied – glaubte sich der AfD-Abgeordnete Wolfgang Gedeon 2009 berufen zu können. Gedeon, dem es als Arzt nicht am rein denkerischen Rüstzeug fehlen kann, scheint vor allem deswegen auf gedankliche Abwege geraten zu sein, weil er sich nicht an der anerkannten Forschung orientierte – es hätte genügt, dass er das 1988 auf Deutsch erschienene Buch von Hadassa Ben-Itto, „‘Die Protokolle der Weisen von Zion‘. Anatomie einer Fälschung“ gelesen hätte. Stattdessen hing er offenbar dem Irrglauben an, die Wahrheit der Geschichte sei in obskuren, abseitigen Schriften zu finden. Darin bestand die Dummheit, die Gedeon beging. Ob diese Voreingenommenheit ohne gebührende Entschuldigung mit verantwortungsvoller baden-württembergischer Landtagstätigkeit vereinbar ist, wird sich im September 2016 und bei den nächsten Wahlen erweisen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Armin Pfahl-Traughber (26.5.2016): „Er [Gedeon] beruft sich bei all seinen Aussagen aus zweiter Hand auf einen Johannes Rothkranz, einen katholischen Fundamentalisten, der durch verschwörungsideologische Publikationen mit antisemitischen Tendenzen bekannt geworden ist. Fleischhauers Auffassung zitiert der heutige AfD-Landtagsabgeordnete auf ganzen vier Seiten aus dessen Schrift.“ Die Schweizer Historikerin Hannah Einhaus beleuchtet in ihrer Brunschvig-Biografie den zweiten Auftritt von Ulrich Fleischhauer in Bern 1935 (S. 54f): „Faktisch überließen die Schweizer Frontisten den Gerichtssaal Fleischhauer und machten ihm den Weg frei für eine regelrechte Propagandashow nach Art des ‘Dritten Reiches‘. Fleischhauers Interesse galt auch weniger den Frontisten und ihrer Sache als seiner Chance auf einen großen Auftritt. Er wollte den Ton angeben auf der Bühne, die der Berner Gerichtssaal bot. So lancierte er im ‘Dritten Reich‘ eine groß angelegte Pressekampagne.“ Der dritte Gerichtstermin war auf den 29. April 1935 angesetzt. Bis dahin hatte Fleischhauer, so Hannah Einhaus (S. 55), „seine ‘Expertise’ zusammengestellt“.

 

Der Berner Anwalt Boris Lifschitz schrieb dem Berner Journalisten, Schriftsteller und Sozialdemokraten Carl Albert Loosli, der seitens der Kläger als Gerichtsexperte mitwirkte, in einem Brief vom 4. März 1935 (Hannah Einhaus, S. 55): „Als ich das famose ‘wissenschaftliche‘ Werk Fleischhauers erstmals in die Hände bekam“, habe er sofort gesehen, „dass der gute Mann einen furchtbaren Mist zusammengeschmiert hat, der keineswegs den Namen ‘Gutachten‘ verdient. Ich merkte aber zugleich, dass die ‘Arbeit‘ gar nicht für das Gericht und den Prozess (…) geschrieben wurde.“ Hannah Einhaus über die dritte Verhandlungsrunde 1935 (S. 57): „Experte Ulrich Fleischhauer ließ fünf Tage lang einen ‘Hagel von Beschimpfungen auf die Juden prasseln‘, schrieb die ‘Neue Zürcher Zeitung‘ am 7. Mai [1935]: Der Erste Weltkrieg, die Niederlage Deutschlands und die daraus entstandene Demütigung, die Versailler Verträge und der Völkerbund seien, so Fleischhauer, von Juden eingeleitet worden. Das Judentum setzte er mit dem Bolschewismus wie auch der Freimauerei gleich. Es beherrsche die globale Finanzwelt und sei eine minderwertige Rasse. Trotz der epischen Länge des Gutachtens ließ Richter Meyer Fleischhauer reden. (…) Noch während der Prozesstage publizierte Fleischhauers Hammerverlag in Erfurt eine neue Fassung der ‘Protokolle‘, mit Auszügen aus seinem Gutachten.“

Die 99-jährige Zeitzeugin Odette Brunschvig mit der Historikerin Hannah Einhaus, Autorin der Biografie "Für Recht und Würde. Georges Brunschvig: Jüdischer Demo­krat, Berner Anwalt, Schweizer Patriot (1908-1973)", Chronos Verlag, Zürich 2016. - Bild: Peter Kamber, 25.6.2016

 

Odette Wyler, die spätere Frau von Georges Brunschvig, war damals 18-jährig und hörte sich, so Hannah Einhaus (S. 57), „Tag für Tag Fleischhauers menschenverachtende Propagandarede an. Ein Satz blieb ihr unvergesslich: ‘Judenweiber waschen ihre Kinder mit Spucke.‘ Dieser Ton Fleischhauers ging ihr nie mehr aus den Ohren. ‘Geschrien hat er im Stile Goebbels´‘, erinnert sie sich noch achtzig Jahre nach dem Prozess.“

 

Das Urteil im Berner Prozess

 

Richter Walter Meyer verkündete das Urteil am 14. Mai 1935. Hannah Einhaus (S. 60f): „Richter Meyer erhob sich, und es wurde still: Gegen das Argument der Pressefreiheit bemerkte er in seiner einstündigen Urteilsbegründung: ‘Die Pressefreiheit hört auf, wo die Gemeinheit beginnt. Es sei bewiesen worden, dass die ‘Protokolle‘ auf einer Vorlage des französischen Autors Maurice Joly beruhen; es gebe keinerlei Beweise, dass die ‘Protokolle‘ am Zionistenkongress in Basel beschlossen wurden. Auch die ‘innere Wahrheit‘ der ‘Protokolle‘, die angeblich auf dem Talmud basierten, sei von Oberrabbiner Ehrenpreis klar widerlegt worden. (…). Vor Fleischhauers Fleiß habe er größte Achtung, doch er schreibe aus den Büchern nur das ab, was für die Juden ungünstig sei. Ein Beweis für die Echtheit der ‘Protokolle‘ sei nicht erbracht worden. Die hetzerischen Stellen des Herausgebers Fritsch im Nachwort erfüllten den Tatbestand der Schundliteratur.“


Die angeklagten Schweizer Frontisten wurde freigesprochen, „da ihnen keine direkte Beteiligung an der Verbreitung der ‘Protokolle‘ nachgewiesen werden konnte“ (Hannah Einhaus, S. 61). „Der Richter schloss die Verhandlung mit den halb ernst, halb ironisch gemeinten Worten: ‘Ich hoffe, es werde eine Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, wieso sich im Jahre 1935 beinahe ein Dutzend sonst ganz gescheiter und vernünftiger Leute vierzehn Tage lang vor einem bernischen Gericht über die Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten ‘Protokolle‘ die Köpfe zerbrechen konnten, dieser ‘Protokolle‘, die bei allem Schaden, den sie bereits gestiftet haben und noch stiften mögen, doch nichts anderes sind als ein lächerlicher Unsinn.‘“ (Hannah Einhaus, S.61).


Möge Gedeon, der die „Alternative“ am falschen, verhängnisvollen Ende suchte, die Entlarvung der „Protokolle“ als zaristisch-geheimdienstliche Fälschung im Berner Gerichtsprozess 1933 bis 35 zur Kenntnis nehmen und entsprechend verantwortlich handeln und schreiben lernen, denn Unsinn kann sich, mit Fanatismus verbunden, fatal auswirken. Noch immer. Leider.

 

(Unterdessen erschien 2017 im Chronos Verlag Zürich als Veröffentlichung des Archivs für Zeitgeschichte: Michael Hagemeister, Die "Protokolle der Weisen von Zion" vor Gericht. Der Berner Prozess 1933-1937 und die "antisemitische Internationale". - Der Verlag schreibt zu dieser Studie u.a.: "In dem weltweit beachteten Verfahren suchten die Kläger die Entstehung des Textes lückenlos zu rekonstruieren und damit das einflussreichste Dokument des modernen Antisemitismus als Fälschung zu entlarven. Die antisemitischen Beklagten wollten hingegen die 'Echtheit' der 'Protokolle' nachweisen. Dabei konnten sie auf ein weit verzweigtes Netzwerk zurückgreifen, dessen Verbindungen von Berlin, Paris und Wien bis nach Los Angeles und ins mandschurische Harbin reichten. Beide Seiten trugen eine Vielzahl von Dokumenten und Zeugenaussagen zusammen, die sich heute in über 30 Archiven auf drei Kontinenten befinden. Der Autor hat diese Materialien erstmals zusammengeführt und ausführlich kommentiert. Der Band wirft Licht auf die bislang kaum erforschte 'antisemitische Internationale' der Zwischenkriegszeit und zeichnet ein differenziertes Bild der Vorgeschichte, des Verlaufs und der Hintergründe des Berner Prozesses.")