Erzählung eines Augenblicks *

 

Wir kannten uns von einem Tanzkurs. Das war Jahre her. Tango. Sie machte auch Flamenco, wusste ich. Grafik und Mode vereinte sie in ihrem Beruf. Nie um einen Scherz verlegen. Eine Tochter hatte sie. Zweimal noch kamen Geburtstagswünsche auf Facebook. Dann, wie aus dem Nichts, frühmorgens, dieser Anruf, der mich schon beim ersten Klingeln aus dem Bett springen ließ. Tränenerstickte Stimme, sonst kein Laut, zuerst. Sie sei eine der Betroffenen – ihr Vater: überfahren. Vom Laster auf dem Breitscheidplatz. Zwei Nächte lag es zurück. Das Weihnachtsmarkt-Attentat. So nannte es gleich die ganze Welt. Montag, 19. Dezember 2016, circa 20 Uhr. Nacht in der hellerleuchteten Stadt. Sie habe gelesen, was ich schrieb, sagte sie. Ich begriff erst. Auf Facebook …
Ich hatte damals einen Anruf aus Paris erhalten, nur zwei Stunden nach der Bluttat. Vom Anschlag hörte ich so erst. – Ja, mir gehe es gut. Mich verblüffte diese Sorge. Sagte: »Ich wohne zehn Minuten entfernt.«
Noch vor Tagesanbruch fuhr ich hin. Mit dem Rad. Unterwegs sah ich einen kleinen Schülerlotsen in gelber Leuchtjacke. Mit der Signalkelle spielte er in seiner Fantasie Tennis. Vor- und Rückhandschläge. Der Verkehr am Platz war abgesperrt. Übertragungswagen standen vor dem Zoo-Aquarium. Ich nahm einen Umweg.
Der seit dem Zweiten Weltkrieg geknickte Turm Gedächtniskirche ragt in die Morgendämmerung, Sinnbild der Stadt, die sich der friedlichen Koexistenz aller mit allen verpflichtet fühlt. Rot-weiße Plastikbänder der Polizei ziehen sich um die uniformen Buden des Weihnachtsmarkts, gleichen farblich seltsam den rot-weiß gestreiften Einheitsdächern der kastanienbraun gestrichenen hölzernen Verkaufsstände. Das Blaulicht des kleinen Streifenwagens davor flackert. Der Dieselmotor eines Einsatzfahrzeugs rattert. Sonst herrscht Stille. Ein Kiosk öffnet. Der Mann sagt »Entschuldigung« und rollt Ansichtskarten-Ständer hinaus. Ich stehe im Weg. Die Stromversorgung auf dem leeren Weihnachtsmarkt funktioniert noch: »Glühweintreff« leuchtet in kristallinen Buchstaben über einem gestreiften Dach – zwei Rentiere ziehen einen Schlitten, der mit einer violetten Leuchtkette umwickelt ist.
Ein Passant hat Blumen in der Hand und sucht nach einer Möglichkeit, sie niederzulegen. Die schmale Verkehrsinsel bietet sich an, wo der Kurfürstendamm beginnt. Da brennen auch schon einige Kerzen.
Zu Fuß linksrum in den Ku’damm, dann zweimal rechts und ich bin in der schmalen Straße hinter dem Hochhaus-Hotel, die der Täter benutzte. Eine zweistöckige Reihe grauer, von Werbung eingehüllter Baubaracken versperrt die rechte Fahrspur. Er hat auf die andere wechseln müssen. Von da sind es noch hundert Schritt. Die Polizei umzäunte den Platz mit Stellwänden. Die weiße Plastikbespannung nimmt die Sicht. Die Schneise der Zerstörung ist trotzdem erkennbar: aufgerissene Holzdächer, ins Leere hängende Dachplanen. Der Sattelschlepper mit dem langen, tief schwarzen Laderaum ragt – leicht schief – in spitzem Winkel in die Budapesterstraße. Die Ladeklappe am Heck ist silbern. Offenbar verlor er beim Aufprall gegen den Gehsteig sofort die Kontrolle über das Fahrzeug. »Glück im Unglück«, sagt ein Mann in weißen Trainingshosen, nachdenklich und bedrückt. Er sei »von der Presse, aber privat hier«.
Schräg vor dem Kino »Zoo Palast« gibt es ebenfalls schon Kerzen und Blumen, wenn auch erst wenige. Eine Reporterin steht im Kamera-Licht. Eine andere fröstelt, ohne Mantel, wartend, bis sie wieder auf Sendung ist. Ich zögere, meine mitgebrachte viereckige weiße Kerze zu entzünden, da Fotoapparate und Kameras sofort alles festhalten. Ich will wiederkommen. Kehre um. Auf dem Ku’damm steht ein frierender Drehorgelspieler, der, um sich zu wärmen, einen kleinen Hund im Mantelausschnitt trägt. Von der Verkehrsinsel bei der Gedächtniskirche sind die Blumen auf den breiten gegenüberliegenden Platz getragen worden, um eine Litfaßsäule herum. Die Anordnung verlor ihren persönlichen Charakter. Außerdem hat jemand einen Becher Milchkaffee verschüttet.
»Nur Friede stoppt die Wahnsinnsspirale von Rache und Hass«, hatte ich mit schwarzem Filzstift auf einen großen leeren Briefumschlag gemalt, den ich unter die Kerze schieben wollte. Aber an diesem kalten Morgen vor der gespenstischen Szenerie ist niemandem nach Sprüchen zumute.
Ich schreibe stattdessen etwas auf Facebook. Abends gehe ich wieder hin. 23 Uhr. Es gibt nur noch vereinzelte Kameras. Hinter der Gedächtniskirche, bei der Ampel an der Budapester Straße, ist der Beitscheidplatz nun wieder begrenzt zugänglich. Auf etwa fünf auf fünf Metern dehnt sich ein Feld mit Kerzen und Blumen, direkt beim aus silbernen Tannenbaumkugeln bestehenden Eingangstor des Marktes. Dahinter beginnt die Sperrzone. Schussbereite Beamte hinter der Abschrankung. Meine Kerze hat bereits einen tief eingebrannten Docht. Das schützt die Flamme gegen den Wind. Der Text liegt darunter. Es ist möglich, entlang einiger der geschlossenen Stände zu gehen. Ich sehe: wäre der Wagen nicht gleich ausgeschert, er hätte noch Dutzende weiterer Buden zerstört, würde am Ende bis zum polypenhaften Kinderkarussell gekommen sein, das an Armen, die sich heben und senken, Helikopter und Fantasie-Boote mit Baldachinen im Kreis herum führt. Die Glasscheiben des LKW sind zersplittert. Ich vermute: der Attentäter sah nicht mehr viel. War sozusagen blind gegen das, was er anrichtete.
Die Kerzen sind bis auf eine einzige blaue weiß oder rot. Wieder diese Weiß-Rot-Kombination. Dasselbe Flackern vor dem »Zoo Palast« und vor der Kirche, an diesem Ort, der oft schon Zeitgeschichte ganz unmittelbar erfahren hat.
Am folgenden Tag stelle ich wieder etwas Kurzes auf Facebook ­– wenn ich schon in Berlin lebe, dachte ich. Nur Worte. Das, was ich da mit anderen teile, sieht sie erst am frühen Morgen des 22. Dezember.

»Ich lege jetzt auf«, so beendet sie das lange Gespräch. Ich schreibe ihr darauf ein Gedicht. Sie antwortet selben Tages: »Nur Albtraum solltest du mit ›b‹ schreiben«. Ich bin froh, dass die Trauer nicht alles überdeckt. Sie fügt hinzu: »Der Staat lässt uns seit Montagnacht allein.«
Ich schreibe ihr wieder. Sie antwortet am 30. Dezember: »Die Behörden sind eine Katastrophe«, sie dürfe »zwischen drei Nummern« auswählen, »wo ich anrufen kann, wenn ich dann ein Problem habe«. Presse will sie nicht. »Wir möchten gern erst alle in Frieden begraben.« Frieden schrieb sie in Großbuchstaben. – Ich antworte: »Wenn ich ganz still und am Rande an die Trauerfeier kommen darf, würde ich das gerne tun.«
Drei Wochen später fragt sie nach: »Möchtest du eine Einladung?« Es werde für sie »ein sehr schwerer Tag werden«, sie habe »eine Moderatorin, weil ich nicht weiß, ob ich es schaffen werde«. Als die farbige Trauerkarte eintrifft, sehe ich ihn erstmals: mit Sonnenbrille im Urlaub, auf einem grünen Hügel hoch über einer Meereskulisse unter ihm. Er wendet den Kopf mit dem kräftigen weißen Haar und den Lachfalten zur Kamera, sitzt schalkhaft in einer trockenen, weißen Badewanne, die den Weidetieren als Viehtränke diente, und trägt ein schulterfreies Leibchen mit breiten … rot-weißen Querstreifen. Daneben im dunstigen Blau vier Zeilen von Eric Clapton: »Jenseits der Tür/ gibt es Frieden, ich bin sicher./ Und ich weiß, es gibt keine/ Tränen im Himmel.«
Wie ich die Tür der Gedenkhalle öffne, bin ich durchfroren, nass und komme etwas zu spät. Es ist weit mit dem Fahrrad vom Westen zum Stadtrand im Südosten. Von Beruf war er pädagogischer Fachlehrer der Sparte Chemie, das hatte er in Dresden studiert, fand nach der Wende eine Stelle im Außendienst eines Baustoffkonzerns. Die Bestatterin, ernst und mitfühlend wie eine Pfarrerin, führt mit Gedichtversen und ohne jegliche Theologie durch die Zeremonie. Geboren ein paar Kilometern außerhalb von Görlitz, bekam er als Kind einen roten Roller mit aufpumpbaren Reifen geschenkt, einen damals so genannten Luftroller. Meiner, denke ich, war auch rot. Zuletzt wird »Stairway to Heaven« eingespielt, von Led Zeppelin. Die Lebensgefährtin des Mannes, dessen Gesicht aus einem Farbposter neben den Blumenkränzen zu uns blickt, ist nicht die Einzige, die, wenn auch gefasst, weint, wie sie im Mittelgang der Halle an uns vorbeikommt. Jetzt erst sehe ich die gute Tanzkollegin und Facebook-Freundin. Sie trägt einen breiten schwarzen Hut. Neben sich ihr Kind, ein Mädchen im Schulalter.
Nach der Beisetzung der Urne können wir uns im Foyer eines nahen Theaters aufwärmen. Kaffee. Suppe. In langsamer Folge werden Bilder gegen die Wand projiziert, die ihn zeigen – eines der Opfer jenes »zwölffachen Mordes am Berliner Breitscheidplatz«, wie sein Neffe sich mir gegenüber ausdrückt. Wir haben am selben Tisch Platz genommen. Er erklärt, sein Onkel müsse augenblicklich tot gewesen sein – mit dem Rücken stand er zur Gasse zwischen den Verkaufsständen, unweit der Glasziegelwand des modernen Neubaus der Gedächtniskirche: »Das Rückgrat wurde voll getroffen, er hat den Tod nicht gespürt.«
Die Tochter sitzt nun vor einem Mikrofon. »Der Schock ging schon ein bisschen tiefer«, sagt sie, der Kreis der Traumatisierten umfasse auch »die Verletzten, die Rettungskräfte, die Leute von der Polizei und die zufällig Hinzugekommenen«. Ein Schwager des Verstorbenen schildert leise, wie sie, als Tochter des Opfers, im Laufe des Morgens danach telefonisch informiert wurde. Er sei dann mit seiner Frau – der Schwester des Betrauerten – sofort zu ihr nach Berlin gefahren. Zu dritt hätten sie es der Enkelin des Toten behutsam mitgeteilt, als sie vom Unterricht kam.
Wir hören: Sie werde sich mit anderen Trauernden zusammentun: »Bis die Verantwortlichen des Behördenversagens benannt sind.« Sie spricht von der »Wut, die sie zeitweise erfasse«. Das ist die einzige Anspielung auf den Täter. Neben ihr, unter der breiten Wand mit den gemessen wechselnden Bildern des Vaters, nimmt auch dessen Lebenspartnerin Platz, die ein Wollkleid in ähnlichem Rot trägt wie Natalie Portman auf dem Plakat des Filmes »Jackie«, der vorige Woche in die Kinos kam. Die Tochter spricht alle Anwesenden persönlich an, bittet zu erzählen, woher sie ihren Vater kennen – und die Lebenspartnerin des Toten geht zurück zu den Tischen. Wie die Reihe gegen Ende an mir ist, gestehe ich, ihn erst durch die Bilder kennengelernt zu haben. »Ich glaube aber bereits zu fühlen, wie er war.«
Eines der Bilder zeigt ihn sitzend auf einer mit Löwenzahn übersäten Wiese, die hinter ihm leicht ansteigt. »Im Südtirol, letztes Jahr«, sagt mir ein paar Stunden später, als längst auch Buletten, geröstete Auberginen und Paprika sowie ein Nachtisch gereicht worden sind, die Lebenspartnerin. Noch immer folgen sich auf der Wand die Farbfotografien, in vielfach wiederholter, aber so bedächtiger Abfolge, dass in diesem Raum eine große innere Ruhe entstanden ist, die alle einander näher rücken lässt.
Ich frage sie, wo das Bild von der Trauerkarte entstand, das auch jetzt immer wieder mal vergrößert aufscheint: mit ihm in der leeren Badewanne, unter sich das Blau des Meeres.
»Auf den Azoren«, sagt sie. Sie hat fotografiert. Er zog stets mit, wenn sie die Kamera hob: steckte seinen Kopf in einen dichten roten Blütenstrauch, was so wirkte, als trüge er eine Blumenperücke; oder er stellte sich vor eine palmen- oder kaktusähnliche Pflanze, deren Kranz sich so um sein Haar legte, als wüchsen ihm stachlige Antennen auf dem Kopf. Er hatte starke schauspielerische Neigungen – imitierte Plakatfiguren, Statuen in moosüberwachsenen Gärten oder gesprayte Wandbilder.
Für den späten Dezember, wenige Tage nach dem gemeinsamen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, hätten sie wieder einen Flug gehabt. »Er liebte es zu reisen.« Mit Jahrgang 1951 war er eben erst »Pensionär« geworden.
Sie standen, erzählt sie schließlich, an einem »Brottisch«, als es geschah. »Dann sagte er: ›Komm, stell dich mir gegenüber hin, damit ich dir in die Augen sehen kann.‹ Das mochte er so sehr. Damit hat er mir, ohne es zu wissen, das Leben gerettet.« Von den eigenen Verletzungen, die leicht waren, wie sie erklärt, hat sie sich erholt. »Nicht von den seelischen«, ergänzt sie. Sie ist selbst Krankenschwester, macht sich keine Illusionen. »Ich war angekommen mit ihm, dachte, das gehe jetzt immer so weiter.«

Tische werden zusammengeschoben. Wie sich verfahrene Weltgeschichte im Privaten niederschlägt, darüber wird auch gesprochen. Doch nun, gegen Ende der Trauerfeier, sind Verwandte und engste Freunde ganz bei sich. Ich spüre, es ist wohl besser zu gehen.

 

 

Gedenkort Breitscheidplatz, Foto

 

In memoriam Klaus Jacob - eines der 12 Opfer des Weihnachtsmarkt-Attentats vom 19. Dezember 2016; die Erzählung entstand im Sommer 2017 als Beitrag für den Wettbewerb um den Walter Serner-Preis des rbb-Kulturradios, Berlin. Eine gekürzte Fassung erschien am 25. Januar 2018 in der Nr. 799 des "A-Bulletin", Züriich.