von Peter Kamber (23.9.2019)

 

 

"Wer?" – "Wir!" – "Wann?" – "Jetzt!" steht am 17.9.2019 als Kunstaktion ganz klein in weißer Schrift auf dem Asphalt des Radschnellweges durch den Park am Gleisdreieck gesprayt.


Das Besondere ist: "Wir" verstehen sofort.


Geht ein Ruck durch die Welt oder kippt sie in den Abgrund – oder so ähnlich.

 

Geschichte macht gelegentlich Sprünge, im Guten wie im Schlechten, vor aller Augen oder unbemerkt. Es gibt Jahre, die erst im Abstand als zeitlicher Einschnitt zu erkennen sind. Gehört das Jahr 2019 dazu? Am Internationalen Literaturfestival Berlin, von einigen liebevoll nur mit den Anfangsbuchstaben "i"-"l"-"b" genannt, müssten Anzeichen dafür zu finden sein. Denke ich.


Der 1949 in der Nähe von Beirut geborene französische Schriftsteller Amin Maalouf stellt am 16.9.2019 seinen Buchessay "Le naufrage de la civilisation" ("Schiffbruch der Zivilisation") vor. Es sei ein "trostloses Paradox", dass wir zwar die Mittel hätten, den weltweiten Überfluss zu teilen, aber "in entgegengesetzter Richtung" rasen; "lang" sei "die Liste" der Dinge, die gestern noch die Leute zum Träumen brachte, doch sei eine "Maschinerie am Werk, die niemand willentlich in Gang" gesetzt habe, und die zerstörerische "Verwerfungen", "Wirren", "Erschütterungen" produziere. "Wie ist es so weit gekommen? Welche Abzweigung hätte 'man' nicht nehmen sollen?", fragt sich Maalouf, der der französischen Académie angehört und mit seinem Appell wie aus der Zeit herausgefallen zu sein scheint: es gebe eine "Mission der Literatur" – für "Klarsicht, Aufmerksamkeit und Wachsamkeit" zu sorgen; es brauche "Seelenstärke", den "Schiffbruch" zu vermeiden, sagt er, und ich befürchte, das Publikum im Saal weiß entweder nicht mehr, was darunter zu verstehen ist, oder bezweifelt, dass das reiche. Warmen Applaus erhält er erst, als er sagt, es gebe keine andere Wahl als vertiefte Anstrengung, um wieder zu lernen, miteinander zu leben. Im mörderischen Bürgerkrieg von Libanon (1975-1990) hat er gelernt, was das heißt.

 

Spiralwirkung

 

Der deutsche Romanautor Sherko Fatah ("Schwarzer September", Luchterhand 2019) erinnert am 16.9.2019 daran, wie – von vielen längst vergessen –  dem libanesischen Bürgerkrieg der jordanische vorausging: der sogenannte "Schwarze September" im Jahre 1970, einer Spätfolge des "Sechstagekriegs" 1967.

 

Die blutige Auseinandersetzung im September 1970 in Jordanien hatte mit der sukzessiven Bewaffnung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) begonnen und führte nach dem Attentat einer palästinensischen Splittergruppe auf den jordanischen König zur militärischen Vertreibung der PLO. Deren Führung ging nach Beirut ... die Spirale des ungelöste Nahost-Konflikts drehte sich im Libanon weiter.

 

Als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen war Sherko Fatah auch in der Lage, Quellen in arabischer Sprache – nach genauer Überprüfung, wie er betont, zu verwenden. Der Roman setzt mit dem archaisch wirkenden Rache-Attentat einer palästinensischen Terrororganisation ein. Sherko Fatah hat nichts, was vorfiel, erfunden. "Es hätte keinen Sinn gehabt, etwas zu fiktionalisieren, das so stark dokumentiert ist."

 

Vielleicht sei es schwer zu ertragen, dass er "Extremisten eine Stimme" gebe: "Doch sind diese Geschichten passiert – und es muss einen Grund geben: es ist eine Art archäologische Arbeit." Der Roman handelt auch von den Deutschen, die sich in Camps in Yemen an Waffen ausbilden ließen ... mit den bekannten Folgen. Sherko Fatah sagt: Wer "mit einer Italo-Western"-Haltung ankomme, werde "Opfer von Interessen". Der östliche Mittelmeerraum komme uns in Berlin "weit weg" vor, dabei gehörten wir zu einem "einzigen Kulturraum".

 

Sein Roman beleuchtet die "säkulare Phase" im Nahen Osten und schildert, wie aus einem "Akteur" der einen "Runde", jener der "nächsten Runde" wird. Die schiitische Amal-Miliz im Libanon mutierte nach der Iranischen Revolution 1978 allmählich zur Hizbollah und erhielt ... 1982 die schweren Waffen der PLO, die durch den Einmarsch der Israelischen Armee einmahl mehr zum Auszug aus einem Land gezwungen worden war. Sherko Fatah, der mit milder Stimme spricht und als undogmatischer Beobachter wirkt, erklärt in Berlin: "Es bedarf schon der Bereitschaft, Kompromisse einzugehen." Aber "im Augenblick" sehe es "nicht danach aus, als würde jemand eine Lösung suchen".

 

Das Gewicht der Geschichte

 

Die Lernkurve der Menschheit: steigt sie steil an oder fällt sie ab? Der indische Autor und Politiker Shashi Tharoor unterstrich am 14.9.2019 im Festival-Themen-Spezialreihe zur Entkolonialisierung der Welten ("Decolonizing Worlds"), wie viele der gegenwärtigen und zukünftigen Konflikte der Welt auf das Zeitalter von Kolonisierung und Imperialismus zurückgehen, unter anderem auf die Berliner Kongo-Konferenz von 1884, die willkürlich die Grenzen eines ganzen Kontinents zog. Zur Möglichkeit, auf dem Umweg über die Vergangenheit die Zukunft zu lesen, prägte Tharoor den One-liner: "The best crystal ball is the rear mirror" ("Die beste Kristallkugel ist der Rückspiegel"). Ausdrucksstark rief er dazu auf: "Teach your children: you need to know your own history."

 

Natur

 

So scheint es auch einsichtig, dass Naturbeschreibung in diesen Zeiten weit mehr zu sein hat als Blümchenzählen, Einüben ins Erkennen von Vogelstimmen und sprachliches Botanisieren. Der Brite Robert Macfarlane verdeutlicht, dass es ein gründliches Missverständnis wäre, im "Nature writing" ein Beschreibung der Natur ohne Menschen zu sehen: "My book is full of people", erklärt er dem Publikum und pries vor dem Publikum Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" (1862). Macfarlane ist Sohn eines Arztes in einer Kohlenminen-Region, spielte als Kind ahnungslos mit Röntgenbildern und durchdrang für sein neues Buch die Oberfläche des Sichtbaren. Es trägt den Titel "Im Unterland. Eine Entdeckungsreise in die Welt unter der Erde" (Matthes & Seitz 2019). "Wir wissen so wenig über die Welt unter unseren Füßen", so beginnt er das Buch – und begibt sich auf "Fahrten in die Dunkelheit", eine "Reise durch die Erdgeschichte" (S. 29). Seit "nunmehr fünfzehn Jahren" schreibe er "über die Beziehungen zwischen Landschaften und dem Inneren des Menschen". Seine Erkundungen wollte er auf Höhlen, Katakomben von Großstädten und die Tiefen des abschmelzenden Grönland-Eises ausweiten – und auf eine Insel im Südwesten Finnlands, wo gerade eine Grabkammer für hochradioaktive Abfälle im Bau ist. Er kann nicht glauben, dass so ein Ort die Zeitalter überdauert: "Vor 10.000 Jahren flossen drei große Flusssysteme durch die Sahara. Vor 100.000 Jahren begann der anatomisch moderne Mensch seinen Auszug aus Afrika." Es gelte, "die Zeit zu lesen", erklärte Macfarlane in Berlin, und eine Grammatik der Sprache zu überwinden, die die Natur instrumentalisiere, dabei aber "die Träume" nicht zu verlieren: "We do not save what we do not love and not know."

 

Literaturen

 

Die internationale Literaturproduktion neigt nicht zur Düsterkeit, aber deutlich zum Realismus. Das (im Sinne Amin Maaloufs klares) Bewusstsein, in einer Umbruchszeit leben, die keinen Kontinent unberührt lässt und jeden und jede herausfordert, findet sich auch in zwei dieses Jahr erschienenen Überblicksbüchern, die uns die Literaturen Lateinamerikas und des Orients näher bringen. In beiden Fällen handelt es sich um die Summe lebenslanger Erfahrungen.

 

Stefan Weidner ("1001 Buch: Die Literaturen des Orient"; edition converso 2019) erzählt am 15.9.2019 dem Publikum: "In meiner Jugend war ich etwas gelangweilt und genervt – hatte gewisse Fluchtphantasien und begann mich für fremde Sprachen zu interessieren." Schon als 15-Jähriger belegte er an der Volkhochschule einen Arabischkurs, und während des Studiums wurde er in Köln durch Exil-irakische Mitstudiernende "in die lebendige arabische Literatur eingeführt". Weidner präzisiert, arabische Autoren und Autorinnen würden die übrige Welt sehr viel genauer kennen und studieren als umgekehrt. Schon im Mittelalter hat Ibn Battuta (1304–1368/1369), ein marokkanischen Berber und Muslim Zentral-, Südwest- und Südasien bereist und kam bis nach China. (Sein ethnografisches Werk trägt in der englischen Übersetzung sinnigerweise den Titel "A Gift to Those Who Contemplate the Wonders of Cities and the Marvels of Traveling".) Der alte "Orient" – mit seiner persischen, arabischen und türkischen Sprache – war stets ein polikultureller Raum mit "sehr verschiedenen Prägungen", schildert Stefan Weidner. Darin liege ein "utopisches Potential, und er zitiert dabei den im Jahr 777 in Irak geborenen Autor al-Dschāhiz, der in seinem "Buch der Tiere" in einer emphatischen Aufzählung alle Vorzüge des Mediums Buches aufführte, die sich denken ließen, u.a. dass ein Buch langlebiger als Architektur sei, es "deine Zunge" löse und du aus ihm "in einem Monat" mehr lernest als "durch den Mund anderer in einer Generation". Die arabische Literatur unter "Blumigkeit" zusammenzufassen hält Weidner übrigens  für "Unsinn" und "Unfug" (der auf Herder zurückgehe) und trägt wie zum Beweis ihrer gedanklichen Kraft von der Dichterin und Mystikerin Rabia von Basra, die ebenfalls im 8. Jahrhundert lebte, ein Kurzgedicht vor: "Behalte den Flug im Gedächtnis / Der Vogel ist sterblich."


In ganz ähnlich umfassender und faszinierender Weise beschreibt die Autorin und Literaturvermittlerin Michi Strausfeld am 15.9.2019 die lateinamerikanische Literatur. Ihr Buch "Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren" (S. Fischer 2019) ist voll eindrücklicher Zitate und "eine Art Lebensbilanz", gibt sie zu. Denn sie kann die großen, legendären Namen aus zahlreichen persönlichen Begegnungen schildern. Auf dem "Kontinent der Diktaturen", sagt Michi Strausfeld, habe die Literatur die Wirklichkeit stets genauer beschrieben als die Politik es wünschte und so ein Gegengewicht geschaffen. Selbst Gabriel Márquez, Hauptvertreter des "Magischen Realismus" (auf den die "gelben Schmetterlinge" zurückgehen) erklärte, es gebe in seinen Büchern "keine Zeile, die nicht auf der Wirklichkeit" beruhe.

 

Heute seien "die Drogenbarone die neuen Kriegsherren", die "eigentlichen Herrscher ganzer Regionen", denn die Ausfuhr von Drogen in die USA gehe einher mit der Einfuhr von Waffen aus eben diesem Land. Durch die "violencia" – die Atmosphäre allgemeiner Gewalttätigkeit mit einer unvorstellbaren Zahl von Morden vor allem an jungen Frauen – und die Unsummen von Geld rund um die Drogen, die den Staat korrumpierten, sei die lateinamerikanische Gesellschaft "an den Abgrund geführt" worden. Hinzu komme, wie in Venezuela und Nicaragua eigenes "Verschulden" der Politik. Der Vertreter und Vertreterinnen seien "nicht in der Lage, die Dämonen der Macht, über die Gabriel Márquez immer geschrieben hat, zu bändigen".

 

Auf die Frage des Moderators Peter Frey, "welches Buch Sie der Kanzlerin" vor deren nächsten Reise nach Lateinamerika zu lesen empfehlen würde, antwortet Michi Strausfeld:

– "Nur eines?"

Dann nennt sie den Roman "Die Verschwundenen" des 1976 geborenen mexikanischen Autors Antonio Ortuño (Verlag Antje Kunstmann, 2019) sowie die Sammlung von "Crónicas" der Autorin Leila Guerriero, die unter dem Titel "strange fruit" (Ullstein) schon 2014 in Deutsch erschienen ist und von Leila Guerriero am 12.9.2019 dem Festival-Publikum auch persönlich vorgestellt wurde, zusammen mit dem neuesten Werk der Autorin, einem noch nicht übersetzten literarischen Porträt des Pianisten Bruno Gelber ("Opus Gelber. Retrato de un pianista").

 

Unter diesen in Lateinamerika ungemein erfolgreichen "Chroniken" werden 10-15 seitige nicht-fiktionale Zeitschriftentexte verstanden, die aber mit literarischen Mitteln verfasst werden und ein realistisches "Spiegelbild" der lateinamerikanischen Wirklichkeit liefern, erklärt Michi Strausfeld.

 

An solche "Crónicas" knüpft auch das von brutalen Jugendbanden in El Salvador handelnde Buch "Man nannte ihn El Niño de Hollywood" an  (Verlag Antje Kunstmann 2019), das Óscar Martínez – der für die digitale Zeitung www.elfaro.net arbeitet – mit seinem Bruder Juan José veröffentlicht hat.

 

"Mittelamerika ist eine gescheiterte Region", erklärt Óscar Martínez am 16.9.2019 in Berlin. Der Bürgerkrieg 1980-1991, der 70.000 Menschenleben kostete, und schon vorher der Putsch von 1954 gegen den rechtmäßigen Präsidenten und Landreformer Jacobo Árbenz Guzman seien Teil des Kalten Krieges gewesen, und die heutigen Banden, die sogenannten Maras, "Ausdruck eines Kapitels, das nie beendet wurde".

 

Rekrutiert würden arme, elternlose oder vernachlässigte oder im Müll lebende Kinder im Alter von 9-14, die in den den Banden ihre "Familie" und "einen Grund zum Weiterleben" sehen – und dann plötzlich "das Sagen haben", "Anerkennung" finden, "jemand" sind. Ihren Ursprung hatten die Banden in Kalifornien, wohin viele aus El Salvador oder Guatemala und Honduras auf der Flucht vor den Diktatoren emigrierten, dann aber nach 1992 wieder nach Mittelamerika zurückgeführt wurden, vor allem wenn sie straffällig geworden waren. Die abgeschobenen Jugendlichen rissen vor Ort das Geschäft um Drogen, illegale Waffen sowie Prostitution an sich und reproduzierten die US-Gangstrukturen in noch viel grausamerer Form.

 

Der Fall Argentinien

 

Aber auch in Südamerika ist die Lage besorgniserregend. Alan Pauls ("Die Geschichte des Geldes", Klett-Cotta 2016) und Claudia Piñeiro ("Die Privatsekretärin", Unionsverlag 2018), beide aus Argentinien, debattieren am 15.9.2019 in der Literaturfestival-Reihe "Reflections" über die Wiederkehr der Inflation in ihrem Land, die Morde an Frauen und die Versuche rechtsgerichteter Kreise, die Abtreibungsgesetzgebung zu verschärfen. So sollte eine Frau, die einen Spontanabort hatte, zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt werden. "Etwas Neues" ereignete sich, sagt Claudia Piñeiro, die Stimme von Schriftstellerinnen werde wieder vermehrt gehört.

 

Claudia Piñeiro, die in ihrem Thriller die Korruption durch die Machteliten thematisiert, hat die Umfragezahlen präsent, die den großen Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik anzeigen.

 

Alan Pauls erklärt, Geld sei stets eine Vertrauenssache: "En Argentina, no confiamos." ("In Argentinien haben wir aufgehört, zu vertrauen.")

 

Argentinien habe lange ein in den 1930er Jahren geprägtes Bild gepflegt, eigentlich ein europäisches Land zu sein. Mit diesem Selbstverständnis sei es seit den 1990er Jahren vorbeit: "Argentinien ist kein europäisches Land, sondern ein lateinamerikanisches wie jedes andere." Diese Einsicht sei zwar wichtig, um im Dialog unter den Ländern des Kontinents Lösungen zu suchen, aber Argentinien habe sehr viele dumme Fehler begangen. Sein Roman "Die Geschichte des Geldes" ist eine sehr persönliche Erinnerungssuche über Inflationsgeld, zwielichtiges, ererbtes und wieder verlorenes Geld in der erweiterten eigenen Familie.

 

Alan Pauls wirkt wie ein Vertreter des späten französischen Nouveau Roman, da er die Handlungsbögen, die anderere hervorstreichen würden, in einer langsamen Folge hochauflöslicher szenischer Bilder lieber verschwinden lässt. Ein seltsamer Effekt ergibt sich durch die Übertragung ins Deutsche: Während seine langen, durch vielerlei Gedankeneinschübe nach allen Richtungen offenen Sätze im Spanischen strikt aufeinanderfolgen und wie ein Bewusstseinsstrom ungebrochen vorwärtstreiben, verwandelt sich der Text im Deutschen, wo das Verb oft vom Subjekt und Objekt getrennt erst ein paar Zeilen später auftaucht, in ein viel komplexeres literarisches Gebilde – und klingt wie Kleist.

 

Als ich ihm diesen Eindruck schildere (weil "Die Geschichte des Geldes" seit einem Jahr zum Spanischlernen im Original und in Übersetzung lese), freut er sich aber nur: Er verehre Kleist ... 

 

Wann wird Populismus präfaschistisch?

 

Durch autoritäre Regierungen beherrscht und schließlich durch Diktatoren zugrunde gerichtet wurde 1918-1945 auch Europa. Die italienische Romanautorin Michela Murgia landete 2018 mit ihrer kurzen beißenden Satire "Istruzioni per diventar Fascisti" (deutsch: "Faschist werden. Eine Anleitung"; Wagenbach 2019) einen Riesenerfolg. Auch am Literaturfestival Berlin wird nirgends so gelacht wie bei ihrem Auftritt am 17.9.2019, wenn sie populistische Leitsätze und Reden zerpflückt und sich offen wundert, warum etwa mit "plattmachen" eine Metapher aus dem Straßenbau eine solche Verbreitung finde.

 

Schon im Sprachgebrauch erfolge bei Populisten und Populistinnen jedweden Lagers eine Verwandlung des Gegners oder der Gegnerin, die es rechtmäßigerweise in einer Demokratie geben müsse, in einen Feind oder eine Feindin. Die Methode sei der Entzug der Legitimation. Das sei "präfaschistisch", mahnt sie vor dem Berliner Publikum; der Respekt oder die noble Achtung vor anderen Meinungen schwinde.

 

"Demokratie bemisst sich daran, wie mit abweichenden Meinungen umgegangen wird", mahnt Michela Murgia und zeigt auf, wie der Populismus das Wort Volk ("popolo") zwar ständig im Mund führe, dabei aber nur die jeweils eigenen Leute meine. Ein superreicher Populist wie Berlusconi habe sich seinerzeit einen gelben Helm aufgesetzt und bei Fabrikbesuchen behauptet, er sei auch ein Arbeiter.

 

Michela Murgia kann spöttisch erzählen, ohne je verletzend zu werden. Ihr eigener Zeitungshändler habe damals durchblicken lassen, dass er Berlusconi wählte: "Berlusconi ist auch ein Unternehmer wie ich", erklärte er. Sie, die mit ihrem ganzen Körper spricht, lehnt sich zurück und der Saal ertrinkt in Lachen. Michela Murgias analytischen Kategorien und ethischen Grundvoraussetzungen sind stets transparent. "Volksnahe" Politik hingegen, sagt sie, gehe vom gemeinsamen Leben aller und von der Wirkung der Politik auf alle aus. Im Übrigen komme auf die Taten an, nicht darauf, was eine Person glaube oder zu glauben meint.

 

Aus dem Publikum gefragt, wie es um die Frauen stehe, legt sie dar, dass Populisten (und sie meint Männer) die Frau eher als "Beleuchtungseinrichtung für den Mann" erblicken und vorzugsweise von "Müttern" reden würden, und nicht von Frauen. "Faschismus beruht immer auf dem Gesetz der Väter", sagt sie, und sehe die Frau nur in zwei Funktionen: als Gattin und Mutter. Es gebe viel zu wenig Kita-Plätze und die Erwerbsquote der Frauen sei tief, vor allem im Süden. "Eine Frau in Italien muss entweder bereit sein zu einem ständigen Kampf oder einem dauernden Martyrium."

 

So überzeugend sie mit ihrer eigenen Stimme im Saal ist, ihre 109-seitige Satire, in der nur ihr faschistischer Einpeitscher redet, wirkt von Seite 40 an leider nicht mehr – vor allem weil jede Handlungsebene, in der er sich selbst diskreditieren würde, fehlt. Der fiktive Faschist setzt mit der Auswertung des Fragebogens am Schluss sogar noch einen Anreiz, ihm nachzueifern: "Präfaschist" darf sich nennen, wer 16-25 Punkte erziehlt; 26-35 Punkten führen zur Kategorie "Ich bin kein Faschist, aber ..."; bei 36 und 50 Punkten "sind die Worte nicht länger dein einziges Kampfwerkzeug", und beim Maximum von 51 bis 65 Punkten heißt es: "Du hast bereits allen demokratischen Ballast abgeworfen (...)". Was am Ende zurückbleibt, ist nur der Spott des "Faschisten" über die Demokratie. Ohne es zu wollen verstößt Michela Murgia damit gegen den eigenen Grundsatz, dass es vor allem darauf ankommt, was eine Person tut.

 

Unfreiwillig liefert sie den Beweis, dass mit Polit-Cabaret der populistischen Tendenz nach Rechtsaußen nicht beizukommen ist, sondern diese im Gegenteil nach den seltsamen Gesetzen der Herstellung medialer Aufmerksamkeit noch verstärkt. Die Rechnung, dass sich die Scheinlogik des "Faschisten" selbst wiederlegt, geht bedauerlicherweise nicht auf, vor allem in der Gewaltfrage (S. 54) wird es brenzlig, und wo es um Antisemitismus geht (S. 87) überschreitet sie eine rote Linie. Im Nachwort, das die Überschrift "Um Missverständnisse zu vermeiden" trägt, schreibt sie, sie habe auch zu zeigen versucht, "wie viel Faschismus in denjenigen steckt, die sich für antifaschistisch halten" (S. 107), doch eine Analyse des Faschismus greift zu kurz, wenn sie alle Populismen, jede Form von ideologischer Intoleranz, politischer Hörigkeit und Gewaltbereitschaft dazu zählt. In der Danksagung erwähnt sie "die unbeugsame demokratische Erziehung", die ihre Mutter ihr zuteil werden ließ. Doch was, wenn mit dieser alles steht oder fällt?

 

Stil und Macht der Fiktion

 

Die junge kanadische Autorin Esi Edugyan, die am 13.9.2019 auftritt, versteht sich entschieden als Fiction-Autorin. Für ihren Roman "Washington Black" (eichborn, 2019), der 2018 das Lieblingsbuch von Barack Obama war und die Geschichte eines nicht entlaufenen, sondern entflogenen Sklaven im Stil des "Steam-Punk" beschreibt, recherchierte sie eingehend auf der (nordöstlich von Venezuela gelegenen) karibischen Insel Barbados. Was die Bestrafung der Sklaven betrifft, habe sie nichts erfinden wollen. Den Roman, der um 1830 spielt, verfasste sie aus der Perspektive des jungen Titelhelden, der als Sklave geboren wird, aber von einer durch die Kenntnis von Beschwörungsfomeln ebenso gefürchteten wie geachteten älteren Mitsklavin beschützt wird, die einst in Afrika geraubt und über den Atlantik verschleppt worden war, aber darum die "Freiheit" noch kannte und sie dem jungen Schützling als Verheißung lebendig vor Augen hält. Einen Bruder des grausamen Plantagenbesitzers zeichnet Esi Edugyan nota bene als "progressiv" – mit dem Wunsch, Erfinder zu werden. Nur soviel: Washington Black wird sein junger Diener. Diese (phantastischen) wissenschaftlichen Kapitel habe sie sehr gern geschrieben Ein Teil der Freude sei, dass sie jeweils nicht genau wisse, wohin sie das Schreiben führe. 


Ebenfalls einen fiktionalen Zugang zur Vergangenheit wählte der junge französische Autor David Diop (15.9.2019) für seinen Roman "Nachts ist unser Blut schwarz" (Aufbau, 2019) über einen senegalesischen Teilnehmer des Ersten Weltkrieges – als Frankreich wohlgemerkt noch ein Kolonialreich war und die französische Militärführung, um die deutschen Feinde in Schrecken zu versetzen, die Soldaten aus Senegal mit Macheten ausrüstete. Das sei tatsächlich geschehen, und zwar um rassistische Klischees zu instrumentalisieren.

 

Diop nun wollte, um die nachwirkenden Vorurteile gegenüber Schwarzen als angeblichen Wilden zu entkräften, "bis ans Ende dieser Komödie" gehen und benutzte dafür den afrikanischen Mythos des "Seelenfressers", der "direkt aus dem Busch" komme. So kontrastiert Diop das historische Zerrbild des schwarzen Soldaten mit dem tatsächlich "unmenschlichen", "völlig unzivilisierten" industriellen Krieges des Granathagels in den Schützengräben. Als die Hauptfigur, dazu übergeht, den im Nahkampf getöteten deutschen Soldaten zum Beweis eine Hand abzuhacken und vorzuzeigen, beschleicht seine französischen Kameraden ein wachsendes Grauen. Erst halten sie ihn für einen Verrückten, dann aber für einen "Hexersoldaten", der Feinde und Freunde "von innen auffrisst".

 

Einen sehr poetischen Zugang zur afrikanischen Wirklichkeit fand der 1966 geborene kongolesische Jurist und Schriftsteller Alain Mabanckou, der auf Französisch schreibt und nach langen Jahren in Paris heute in Santa Monica/Kalifornien lebt. "Aucune langue le monopole de la littérature" – "Keine Sprache hat ein Monopol auf die Literatur", erklärt Mabackou am 17.9.2019 in gelöster, stets zu einem Scherz bereiten Stimmung. Er selbst spreche sieben mündliche afrikanische Sprache, für die es keine Wörterbücher gebe, und als kleines Kind glaubte er, auch Französisch sei nur ein gesprochenes Idiom, eines irgendwo "aus dem Norden". Erst bei der Einschulung mit 6 Jahren "begann es kompliziert zu werden", sagt er und definiert Humor später in der Diskussion als eine Art und Weise ("façon"), über die schwerwiegensten Dinge ("les choses les plus graves") so zu reden, dass es sie nicht schwerer macht.

 

In Deutsch erschienen sind von Alain Mabanckou bisher "Zerbrochenes Glas" (2015), "Morgen werde ich zwanzig" (2015), "Die Lichter von Pointe-Noire" (2017) und "Petit Pimant" (2019; alle beim Verlag Liebeskind, München).

 

"Mes livres sont plus parlés que écrit" ("mehr gesprochen als geschrieben"), behauptet er und untertreibt natürlich. Dennoch hält er daran fest, eine Sprache müsse "spazieren" – es sei wichtig, sie "atmen zu lassen". Einen "Plan" mache er nicht, wenn er ein Buch beginne, sondern lausche "auf eine innere Stimme" ("j'écoute une voie intérieure"). Es sei ein sehr handwerklicher ("artisinal") Prozess – er schreibe ununterbrochen alles nieder, und dann erst, wenn das Material vorliege, beginne er es zu ordnen; das sei dann "80 % der Arbeit".

 

"Der Stil sei in ständigem Kampf mit der Sprache" ("le style est en combat continuelle avec la langue"). "Der Stil prägt die Werke" ("le style marque les oeuvres"), die Sprache sei nur das Mittel.

 

Begonnen hat er mit Lyrik. Damals seien Gedichte viel beliebter gewesen als Prosa ... vor allem bei den Mädchen und Frauen, die über einen Romanautoren nur gesagt hätten: "Der erzählt nur Geschichten, die nicht einmal wahr sind!" – "Il raconte des histoires qui ne sont même pas vraies!"

 

Er merkt bald, dass er, um veröffentlicht zu werden, Kongo-Brazzaville verlassen und nach Frankreich muss, wo die Verlage und die großen Zeitungen sind: "Wenn du nicht in der Nähe der Herdplatte bist, wird das Fleisch nie gar", scherzt Alain Mabanckou.

 

Wie er als junger Mann nach Paris kommt, erfährt er, dass auch da niemand die Gedichte drucken will. Ein älterer kongolesischer Autor rät ihm zur Prosa: "Einen Roman zu schreiben heißt nicht, vor der Poesie zu fliehen." Dieser Mentor weiter: "Mettez la poésie dans le roman!" ("Legen Sie die Poesie in den Roman!" Das beherzigte Alain Mabanckou: Seither lasse er die Leute glauben, dass sie einen Roman läsen! ("Je faisais croire les gens que c'est un roman.")

 

Doch Alain Mabanckou insistiert: "Ein Roman ohne poetischen Atem" ("un roman sans souffle poétique") habe "kein langes Feuer" für die Nachwelt.

 

Seit 2007 ist er Professor Professor an der University of California in Los Angeles (UCLA) und stellt fest, dass es heute in Bezug auf die "gemeinsame" Geschichte des Kolonialismus "weniger Voreingenommenheit" gibt: "On accepte maintenant de parler de notre passé commun sans préjudices." Die Leute wüssten nun, "dass wir nicht auf den Bäumen gewachsen sind oder sonstwo im Busch", sondern "Menschen aus Fleisch und Knochen" und "nicht an den Rand der Gesellschaft gehören".

 

Neuer Realismus

 

Eine überraschende Verwandschaft verbindet den jungen, 1982 in Oakland an der Buch von San Francisco geborenen US-Schriftsteller Tommy Orange, der am 14.9.2019 am Literaturfestival Berlin seinen Welterfolg "Dort dort" (Hanser Berlin 2019) vorstellt, mit dem ebenfalls noch sehr jungen, aus Lothringen stammenden französischen Autoren und Goncourt-Preisträger 2018 Nicolas Mathieu ("Wie später ihre Kinder", Hanser Berlin 2019). Ganz unabhängig davon, dass sie im selben deutschen Verlag herauskommen, liefern beide bei höchstem literarischen Stilgefühl eine soziologisch genaue Studie von – grob und unfeinfühlig gesprochen – perspektivlosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Und was die Kunst sowohl bei Tommy Orange wie bei Nicolas Mathieu ausmacht: beide Romane lassen ihren Figuren ihre menschliche Würde.

 

Realistisches Schreiben, so Nicolas Mathieu, habe "eine lange Tradition" – und er nennt die Namen von Balzac, Flaubert und Zola. Mit beeinflusst habe ihn auch eine in den Jahren der Weltwirtschaftskrise entstandene Sozialreportage des US-amerikanischen Autors James Agee ("Let us now praise famous men", 1941, mit den Fotos von Walker Evans; "deutsch: "Preisen will ich die großen Männer", 1989).

 

Und genauso, wie Nicolas Mathieu – über eine Region schreibend, in der die Stahlindustrie am Boden liegt, keine Revolution stattfinden wird und nur noch "Lärm zu machen" übrig bleibt – nicht einfach "Soziolgie deklinieren" wollte, wie er am 15.9.2019 dem Berliner Publikum erklärt, so hat auch Tommy Orange in seinem Roman über junge Cheyenne und Halb-Cheyenne – die nicht sagen können, "wie oft" sie "verraten und gedemütigt" wurden und allein schon so auf Herablassung gestoßen sind, dass Leute ihnen nichts ins Gesicht blicken wollen –, hat auch Tommy Orange kein Textbuch verfasst, sondern erreicht bei der Schilderung seiner Charaktere eine Eindrücklichkeit, die zur Zeit unerreicht ist in der Literatur und jede bisherige Vorstellung von Intensität übersteigt. Für "sie" sei "ihr Land überall und nirgends" – "we are the memory that does not remember."

 

Die Figuren von Tommy Orange sind auf dem Weg zu einer indianischen Zeremonie, um, wie es bitter sarkastisch heißt, zuzugucken, wie "Indianer" für Geld "Indianer spielen", und selber ein Ding zu drehen, was in einer Katastrophe endet. "This is the history of what happens." Und: "I don't think of characters before I write them", erklärt Tommy Orange am 14.9.2019 in Berlin.

 

Literatur ist Musik, aber kein Fußball

 

In einem Podiumsgespräch vor der abendlichen Lyrik-Lesung kommen die Musikerin und Autorin Dotschy Reihardt (Berlin) und der Herausgeber Karl-Markus Gauß (Wien) zum Urteil, dass es eine Besonderheit der Literatur der Sinti und Roma sowie der Jenischen gibt: dass die Menschen, von denen diese handelt seit Jahrhunderten "an den Rand der Gesellschaft" gedrängt und Gegenstand von "Klischees" sind, "die nie durch realistische Bilder ausgetauscht wurden". Jenische würden vor allem in Deutschland, der Schweiz und in England ein Leben als Fahrende führen.

 

Dotschy Reinhardt zufolge läuft ihre Literatur deswegen "ständig Gefahr, die Stereotype zu reproduzieren" – "und sogar zu ethnifizieren", allein schon, wenn "assoziiert" werde, dass "Roma ein Problem" seien. Das könnten auch positive Klischees sein, wie "Flamenco" in Spanien oder der Jazz von Django Reinhardt ... eines Ahnen von Dotschy Reinhardt. Wer die eigene Zugehörigkeit "zum Thema" mache, habe "Angst, darauf reduziert, in diese Schublade gesteckt zu werden" und die "künstlerische Freiheit zu verlieren".

 

Deshalb, ergänzt Karl-Markus Gauß, zögen es viele vor, sich nicht zu outen. In den großen philharmonischen Orchestern seien sie, und es gebe auch viele "sehr gute Fußballer". Gauß scherzt: "Sinti und Roma wollten nie einen Nationalstaat." Hätten sie einen, wären die "Chancen, Europameister zu werden", nicht klein.

 

Beide betonen, Ziel der Sinti- und Roma-Literatur sei es, der "Fremdbestimmung zu entkommen und ein eigenes Selbstbewusstsein zu entwickeln".

 

"Kunst des Schreibens"

 

Während Florian Illies am 13.9.2019 in der Reihe "The Art of Writing" mit Sandra Kegel auf eine Befragerin stößt, mit er er sich gerne zu einer radikal offenen Selbstschau bereitfindet, die in ebenso heitere wie berührenden Fazit endet, dass beides – unglaubliche Glücksfälle wie Misserfolge – bei den eigenen Veröffentlichungen keine schlechte Lehre für seine gegenwärtige Tätigkeit als Verleger (bei Rowohlt) sei, fühlt sich Maxim Biller am 15.9.2019 mit fortschreitender Dauer des Gesprächs mit dem hypersensitiven, minutiös reflektierenden jungen Schweizer Übersetzer und Autor Stefan Zweifel immer unwohler.

 

Maxim Biller, 1960 in Prag geboren und schon als Kind mit den Eltern nach Westdeutschland gekommen, erreichte mit "Sechs Koffer" (Kiepenheuer & Witsch 2018) ein breites Publikum. Der Roman handelt von seinem in der Sowjetunion hingerichteten Großvater und den Familiengerüchten um dieses Drama.

 

Biller, der Sohn eines Übersetzers ist, der von morgens bis nachts tippte, um die Familie durchzubringen, und dazu immer dieselben Beethoven-Schallplatten abspielte, streitet sich mit Stefan Zweifel ausgerechnet über die Kunst des Übersetzens. Sein Vater, meint Biller, habe ihm gesagt, Sprache müsse "nicht immer logisch sein". Ausrücklich lobt Biller außerdem die Übersetzungen der 1920er und 1930er Jahre – er ziehe sie den vielgerühmten Neu-Übersetzungen vor.

 

Als Stefan Zweifel irgendein Zitat anbringt, bemerkt Maxim Biller, auf die Zeit verweisend, in der er selbst zu schreiben begann: "Ich habe Leute verachtet, die andere zitieren. 'Denke selbst!' Man stellt sich nicht auf die Schultern der anderen!"

 

Daraus ergab sich seine Poetik, die er vor dem Publikum so umriss: "Schreiben bedeutet, die Grenze zu überschreiten, die andere, die neben einem stehen, gerade gesetzt haben."

 

Dezidiert stellt Maxim Biller sich auch gegen die Romantik – und auf die Seite des Realismus, d.h. der Aufklärung. Sarkastisch sagt er, die deutsche Romantik habe den Schreibenden ermöglicht, trotz Obrigkeitsstaat weiterzuschreiben, in der stillen Hoffnung, "vielleicht vom Herrscher" eingeladen zu werden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg habe es "die realistische Literatur in Deutschland sehr schwer gehabt".

 

Der Streit eskaliert beim Thema "Verständlichkeit": Zur Überraschung von Stefan Zweifel bekennt Biller, zwar die "Dubliner" von James Joyce hochzuschätzen, nicht aber den "Ulysses": "Das kann man ja nicht lesen!" Mehr aus Verblüffung als aus Provokation versucht Stefan Zweifel darauf, den "Ulysses" zu verteidigen, unglücklicherweise mit einem Zitat: nämlich mit einer Unterscheidung zwischen "Avantgarde" (Vorhut) und "Arrière-Garde" (Nachhut), die David Foster Wallace in seinem Werk "Unendlicher Spaß" (englisch 1996; deutsch 2009) gemacht habe: dass sozusagen Nachrückende gebraucht würden, um die Leistungen der Avantgarde oder der Moderne zu erhalten.

 

Hilfesuchend wendet sich Maxim Biller ans Publikum, das sich möglicherweise zu langweilen beginne, und steigt geistig aus – bot zum Schluss aber noch einen Aphorismus (keinen zitierten nota bene): "Mit Literatur zeigt man (frau), wie die Welt sein könnte; mit Journalismus, wie sie leider ist."

 

Syrisches Gefängnis

 

Vom Gefängnis wird nur so viel klar, dass es in der Wüste liegt. Mustafa Khalifa ("Das Schneckenhaus", Weidle 2019) liest am 18.9.2019 zuerst selbst auf arabisch, dann folgt er mit ruhigem Blick, den Kopf mit dem schon ergrauten Haar, Schnurrbart und zurückgeschnittenen Kinnbart auf die Hand und den Ellbogen gegen die Seitenlehne gestützt, den Worten des Schauspielers, der den Roman in Deutsch vorträgt. Im grellen Licht eines Kamerateams fällt der runde Schatten eines Mikrophonkopfs wie eine schwarze Kanonenkugel gegen die eine Hälfte seines Gesichts.  

 

"Die Luft ist voller Staub. (...) Niemals habe ich einen Gefangenen dieses Gefängnis verlassen sehen." So beginnt das Werk. Sandstürme dauerten 2 bis 3 Tage. "Wir atmen Staub." Eine Zeitungsseite wird hereingeweht. Seit er, der Erzähler, in sein Land zurückgekommen sei, habe er "keinen einzigen gedruckten Buchstaben gesehen". Die Gefangenen ergattern das Blatt – aber außer Werbung und Fußball stand nichts drin. Einer der die Lesezeit für jeden festlegt und dafür sorgt, dass bevor die Wärter kommen jeder drankommt, wird scherzhaft "Informationschef" tituliert.

 

Im Roman "Das Schneckenhaus" ist kein Name, kein Ort und kein Land genannt. "Und es gibt keine Zeit", sagt die Moderatorin und Dolmetscherin Larissa Bender.

 

"Weil das, was da passiere, "überall auf der Welt" geschehen könne, erklärt Mustafa Khalifa.

 

Dann führt er aus, es gebe im Gefängnis "zwei erlebte Zeiten": Zum einen die Zeit, die fast nicht vergehe, die "wie eine Schildkröte" laufe. "Aber es kommt nach Jahren der Punkt", wo die Gefangenen sich plötzlich vorsagten, sie seien schon so und so viele Jahre hier: "Wie kann das sein?" Im Roman schafft es ein Mitgefangener, die Isolation –das Schneckenhaus – der Hauptfigur aufzubrechen. Seine Zunge war "eingerostet". Der andere brachte ihn wieder dazu, zu sprechen. Im Publikum ist ein Mann der angestrengt mit dem Kopf nickt, mehrfach aufsteht, sich dann wieder setzt.

 

Die "Ereignisse" seien so, wie sie im Roman erzählt sind, geschehen, er habe entweder alles selbst erlebt oder gehört. Nur "das Allerschlimmste" habe er nicht beschrieben. Die Hauptfigur aber habe er aus zwei Personen zusammengefügt: aus der eigenen Person und einem Freund, der sich "noch immer in einer schwierigen Situation" befinde. Es seien Geschichten der beiden.

 

Untereinander gebe es in den großen Zellen ein Füreinander, aber auch erbitterte Streitigkeiten über Nichtigkeiten. "Das Gefängnis ist die Hölle des Details", sagt Mustafa Khalifa. Einige seien bereit gewesen, für andere sogar die Schläge der Wächter zu erleiden, entweder, indem sie sich bereit erklärten, das tägliche Essen durch ein Spalier prügelnder Wärter in die Zelle zu holen, oder indem sie eine von den Wächtern bemerkte angebliche Schuld auf sich nahmen. Mustafa Khalifa zeigt steile Linien in die Luft. Die 200 bis 300 Gefangenen wurden von oben rund um die Uhr von Militärpolizei bewacht.

 

Der Roman führt aus dem Wüstengefängnis heraus. Draußen wegen der Haft inzwischen zu einer "Legende" geworden zu sein, führt zu Verstrickungen. Verwandte raten ihm zu einer Heirat, behaupten ständig von neuem, "eine Braut" für ihn gefunden zu haben. Er will nur in Ruhe gelassen werden. Ein "unüberwindlicher Graben" scheint ihn von den anderen zu trennen. Ansonsten ist er nicht in der Lage, etwas zu spüren. Seine Sprache war "tot", es schien ihm, er müsste erst wieder eine für sich finden und dass er "überhaupt keine Welt mehr" habe. Währenddessen fühlten die Frauen, die ihn heiraten wollten, durch seine abweisende Haltung "in ihrer Ehre verletzt" – "keine" gefalle ihm offenbar – und brachen die Beziehung zu ihm "fast ab" ...

 

Gedächtnis

 

Von einem "schwarzen Loch", das sich, selbst wenn nur "eine Sekunde lang", manchmal unvermittelt auftue, spricht auch der in der Schweiz lebende, vor 17 Jahren aus dem Irak geflüchtete Autor Usama Al Shamani ("In der Fremde sprechen die Bäume arabisch"; Limmat Verlag 2018). Ein Zurück in den Irak für ihn kam nicht in Frage: "Es gab eine rote Linie, ein scharfes Messer." Denn sein Bruder ist seit dem Bürgerkrieg verschollen. Wenn seine Mutter anrufe und "ein paar Worte Arabisch zu mir spricht", ziehe es ihm das Herz zusammen.

 

"Heimat" sei "erschaffbar", wenn auch "natürlich harte Arbeit – an sich". "Ich habe mir gesagt: ich bleibe da; ich muss irgendwie Fuß fassen." Im Arabischen sei "Heimat" einfach, wo ein Mensch "zu Hause" sei. Er habe sich "beheimatet".

 

Die "deutsche Kultur" kannte er von der Universität im Irak her, lange "bevor ich die deutsche Sprache lernte". Diese brachte er sich im Wohnheim gleich nach der Ankunft im Alleingang bei. "Das Gefühl, dass ich mitrede, das ist meine Heimat." Heimat sei, wenn er abends "begrüßt" werde – von den Kindern und seiner Frau, die in der Schweiz aufwuchs und auch aus einer irakischen Familie sei. In Berlin gesteht er aber auch, "dass die westliche Kultur ganz anders war, als ich sie aus dem irakischen Fernsehen kannte". Nach der Diktatur Husseins, der Besetzung und dem Bürgerkrieg herrsche im Irak Chaos und eine neue Diktatur. Aber das Land habe Bergen, die über 3000 Meter hoch und schneebedeckt seien, und Wüsten sowie den Tigris und den Euphrat und sei ein Land mit einer langen Geschichte: "Die Leute haben Angst, aber das heißt nicht, dass sie kein Gedächtnis haben."

 

Zwei Fälle von Verzweiflung bei klugen Frauen

 

Der neue Roman "Tage des Verlassenwerdens" (Suhrkamp 2019) der legendär-anonymen italienischen Autorin Elena Ferrante wurde selbstverständlich in ihrer Abwesenheit am 18.9.2019 vorgestellt, und das Publikum drehte auch nicht die Hälse, um zu sehen, ob sie vielleicht nicht doch im Saal sei – zu sehr zog die Lesung von Eva Mattes in den Bann, und die fiktive Geschichte selbst: über eine von einem dümmlichen Mann schamlos betrogene kluge Frau, die zunehmend durchdreht. Der Mann, der, es sei nochmals betont, eine sehr schlechte Figur macht, hat, wie es der Verlagslektor und die Moderatorin schildern, Familienlügen auf Ehe- und Sexlügen getürmt, und weckt in der Hauptfigur eine "dunkle Zerstörungswut". Vom Genre her ist der Roman eine Rachephantasie und das Lachen der Frauen im Publikum erhellend ... und eine Mahnung an jeden Mann ...

 

Enthüllt wurde auch, dass im November 2019 in Italien ein weiterer Roman von Elena Ferrante erscheine (auf Deutsch im Sommer 2020), in dem die Männer offenbar noch immer nichts dazu gelernt haben, und von dem der Verlag bislang nur den ersten Satz kenne, der, Irrtum vorbehalten, laute: "Zwei Monate bevor mein Vater meine Mutter verließ, sagte er mir, wie hässlich ich sei."

 

Ebenfalls kein gutes Ende nahm die Ehe einer anderen klugen Frau, der aus Serbien stammenden Mileva Marić (1875-1948), die wie Albert Einstein in Zürich Physik studierte. 1903 heirateten die beiden, und die in Zagreb, Wien und Stockholm lebende Romanautorin Slavenka Drakulić schrieb über sie einen Roman: "Mileva Einstein oder die Theorie der Einsamkeit" (Aufbau Verlag 2018).

 

Viel sei über Mileva sei nicht bekannt, der Roman beruhe auf den bestehenden Biografien, und Briefe gibt es, unter anderem einen von Einstein, in dem er als Bedingung zu einer Wiedervereinigung Bedingungen stellt, die diese Frau, die in den Anfangjahren in Bern für ihn die mathematischen Berechnungen besorgte, faktisch zu einer Haushaltsangestalten gemacht hätten ... Mit dem Abbruch der Kommunikation der beiden beginnt der Roman.

 

Slavenka Drakulić, die sich als Autorin schon auch gelegentlich wie eine Schauspielerin vorkommt, die Emotion zum Ausdruck bringt, ohne sich vollständig mir der dargestellten Figur identifizieren zu dürfen, lässt Mileva Einstein sagen: "Warum habne ich mir eingebildet, wir könnten nie in eine solche Situation geraten?" Auch hier war eine anfänglich von dem Mann in der Geschichte verheimlichte andere Liebe die Ursache für Streit und schließlich Trennung. Die Moderatorin Milena Adam sagt: "Eine der traurigsten Geschichten, die ich je gelesen habe."

 

Radikaler Realismus

 

Haarklein unterscheidendes, auch bis ins letzte Detail und Geheimnis eindringendes autofiktionales Schreiben, das in den Niederlanden mit J.J. Voskuil ("Das Büro", Beck 2012; niederländisch in 7 Bänden 1996-2000), in Frankreich mit Annie Ernaux ("Die Jahre"; Suhrkamp 2016; französisch 2008) und Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims", Surhkamp 2016; französisch 2009) verbunden ist, kennt in Norwegen neben Karl Ove Knausgård noch einen bedeutenden anderen Vertreter: Tomas Espedal ("Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen"; Matthes & Seitz 2011; zuletzt "Das Jahr", Matthes & Seitz 2019).

 

Tomas Espedal, geboren 1961 in Bergen, meint, sein Projekt eines Romans in zehn Büchern, die alle je einer anderen literarischen Gattung angehörten, nun mit seinem kürzlich in Norwegisch erschienenen Essay-Band abgeschlossen zu haben. Auf Deutsch soeben erschienen ist das "Das Jahr" – ein Langgedicht, von Pertracas "Canzoniere" inspiriert wie er in Berlin sagt, zum Thema einer einmaligen Liebe.

 

"Der Roman ist seinem Wesen nach eine experimentelle Form", erklärt er und verweist auf Cervantes im 16./17. Jahrhundert ("Don Quichotte") und Laurence Sterne im 18. Jahrhundert ("Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman"). Seit etwa 15 Jahren lese er indessen vorwiegend Lyrik: "Hier findet das Experiment statt, hier erhält die Sprache ihre Kraft." Nur selten schlage er Romane auf, am besten gefielen ihm noch jene von Autorinnen und Autoren, "die von der Lyrik herkommen". "Als Romanautor besteht meine Arbeit vor allem im Lesen."

 

Espedal spricht leidenschaftlich. Manchmal schließt er die Augen, während er redet, manchmal erhebt er sich mit hellwachem Blick von seinem Sitz. Näher zu seinem autofiktionalen Ansatz befragt, verweist Espedal auf Balzac und die "große realistische Literatur des 19. Jahrhunderts": So wie Balzac in "Père Goriot" die Stadt Paris und ihre "Intérieurs" schilderte, so hätten sie es in Bergen/Norwegen getan, wo er, Espedal, an der Schreibakademie der örtlichen Universität unterrichtete und u.a. Lehrer von Karl Ove Knausgård war. 

 

Literatur sei "eine Möglichkeit, der Wahrheit auf die Spur zu kommen" – "ob" sie dann wahr sei oder nur "Behauptung" bleibe zu "prüfen".

 

"Es hatte große Folgen für uns Schreibende", fügt er hinzu; es gab "große ethissche Diskussionen", "moralische Kritik", es sei nicht statthaft, so über das "Privatleben" zu schreiben: "dass ihr über eure Liebsten schreibt und euren Freundeskreis!" Es kam zu "Strafanzeigen", "Schlägereien", "Todesdrohungen", erklärt er.

 

"Die Realität schlug zurück. Es herrschte das reine Chaos. Ich musste mich prügeln." Aber: "Jetzt ist fertig!" Die zehn Bücher seien abgeschlossen.

 

Aus "Das Jahr" (Matthes & Seitz 2019) trägt Tomas Espedal u.a. die Zeilen vor (S. 159f):

 

" (...) doch uns fehlt das rechte Wort / für unsere Untaten / uns fehlt der rechte Name / für die Kriege die wir führen / gegen uns selbst / und unsere Nächsten / (...)"

 

Die Sätze "wir kennen nicht das Wort für unsere tägliche Zerstörung" und "wir könnten sagen, wir sind unschuldig" hallen lange nach. Thomas Espedals Auftritt ist ein Höhepunkt des Literaturfestivals.

 

Freiraum

 

Die 1965 geborene Schweizer Romanautorin Ruth Schweikert legt mit "Tage wie Hunde" (S. Fischer 2019) ebenfalls ein ein eindringliches autofiktionales Buch vor, allerdings eines, in dem sie gegen sich selbst anschreibt und das keinen Gattungsnamen trägt.

 

Gleich am Tag der Diagnose – "leider bösartig" – Anfang 2016 fasst sie den Entschluss zu diesem Buch. "Es war ein Reflex", bekennt sie in Berlin. Die Diagnose war ein "Zuschreibung" – sie versuchte "mit Sprache darauf zu reagieren", "ohne Garantie, dass es zum Überleben führen würde", aber es sei "ein Raum, der uns vielleicht fast bis zuletzt zur Verfügung steht".

 

Über den Krebs selbst, den sie nicht nur mit Literatur überwinden will – und seit drei Jahre auch auf Distanz halten kann, schreibt sie: "Dass er einfach nichts bedeutet, nichts!, ist wohl wirklich die größte Kränkung." (S. 164) Aber: "(...) es gibt Erzählräume, die sich auftun mit dem ersten Wort und mit dem letzten sich verschließen (...)." (S. 182)

 

Sie sagt in Berlin: "Das war für mich existentiell: diesen Raum aufrecht zu erhalten. Moment mal! Ich möchte mich dazu verhalten. Es gibt diesen Spielraum. Ich bin nicht einfach Objekt."

 

"Tage wie Hunde" ist keinesfalls ein Ratgeber, es ist viel mehr als das, Prosa ohne Tabu. Wer in einer vergleichbaren Lage ist, findet unendlich viel auf diesen kurzen 199 Seiten. Noch mehr entdecken diejenigen unter den Gesunden drin, die plötzlich einer betroffenen Person gegenüber stehen oder vielleicht ein e-Mail oder einen Brief schreiben müssen, ernsthaft den Versuch machen möchten, etwas zu sagen, dass von Belang ist, und nicht nur eine Floskel. Statt "Wie geht's" sollen sie, so Ruth Schweikert in Berlin, zum Beispiel "nach den Veränderung am Tag der Diagnose" fragen. "Diese Brüchigkeit" des Sprechens und Redens anderer wollte sie "abbilden". 

 

 

Betroffene selbst werden wie in eine Welt aufgenommen, in der sich ungezählte andere als Mitbetroffene plötzlich zu erkennen geben und über sich berichten. 

 

"Ich sammle Überlebenserzählungen, ich sammle Sterbenserzählungen", schreibt in sie (S. 188).

 

Aber sie hat, als sie es im Sommer 2017 in Paris zum Abschluss bringt, den Wunsch, so erklärt sie dem Berliner Publikum, "es möge ein leichtes Buch werden", "bloß keine Larmoyanz", stattdessen "Kampfbereitschaft". "Doch wie genau?"

 

"Ich will sie nicht damit belästigen", und sie zählt auf, was sie beschäftigt. Noch immer. Sie schildert aber auch, was ihr eines ihrer Kinder sagte: "Deine vielleicht größte Schwache ist, dass du keine Schwäche zeigen kannst" (S. 34).

 

Sie sagt, sie ertappe "sich täglich in flagranti bei ihrem Überlebenswunssch". In Berlin trägt sie dunkelblaue Sneakers mit weißer Fersensohle und fluoreszierend-orangen Schnürsenkeln, darüber ist der Ansatz von Wollsocken zu sehen, mit weißen und hellblauen Trapezen.

 

Es sei auch ein Buch darüber, "wie ein Mensch seinen Schrecken verliert". Sie habe sich gesagt: "Ich möchte ein Buch zur Welt bringen wie ein Kind", "von drüben erzählen", erklärt sie. 

 

"Ein Text ging aus dem anderen hervor. Es sind Vergegenwärtigungen" sagt sie. Alles ist tatsächlich aufgehoben in Geschichten. Mit scheinbarer Leichtigkeit klärt sie in szenischem Schreiben das Medizinische, die Bestrahlung, die Chemo, die Diät, die anthroposophische Mistel-Therapie; das Yoga; die Feldenkrais-Therapie; auch den Tag, an dem sie ausrastet und die Wut nicht mehr zurückhalten kann (S. 130). Denn nie ist sie zunächst allein. Erst nach der abgeschlossenen Behandlung wird ihr das bewusst:

 

"Was ich zuvor am meisten liebte: das Alleinsein, ist nun die größte Herausforderung (...)." (S. 161)

 

 

"About: Sex"

 

Die Spezialreihe "About: Sex" des Internationalen Literaturfestivals Berlin lasse ich eher links liegen, auch den Katalog dazu, den der Verlag Vorwerk 8 (Berlin) zum Festival herausgab. Grund: Persönlich im vorgerrückten Alter, kann ich das Seelische der Liebe und die "Sache" nicht voneinander trennen, teils glaube ich (sicher zu Unrecht), in Berlin sei dazu doch alles gesagt. Auch habe ich nicht vergessen, was Michel Foucault einmal sagte, dass nämlich das zwangsweise Reden davon längst zur neuen Form der gesellschaftlichen Kontrolle des "Sex" geworden sei.

 

Auch kannte ich Michel Foucaults posthum erschienenes Werk "Die Geständnisse des Fleisches" schon, das am Festival zu reden gab – den lange erwarteten vierten Band von "Sexualität und Wahrheit" über die ersten christlichen Jahrhunderte, der Anfang 2019 auf Deutsch erschien (Suhrkamp).

 

Da der Lebenspartner Foucaults, Daniel Defert, mir für einen Radio-Essay ("Michel Foucault – Philosophie und Tod"; Süddeutscher Rundfunk, 3. Februar 1992) einst beim Interview in Paris erklärt hatte, dass Foucault die Angewohnheit hatte, nach der Niederschrift eines Buches es gleich noch einmal gänzlich neu zu schreiben, war ich auch nicht enttäuscht, dass "Die Geständnisse des Fleisches" streckenweise wie einer Aneinanderreihung langer Exzerpte aus der gelesenen Originalliteratur gleicht und die sonst für Foucault typischen starken, aktuell relevanten Schlussfolgerungen weitgehend fehlen.

 

Gefallen hat mir hingegen außerordentlich – wenngleich ich bisher den Leute, denen ich davon erzähle, den tiefen Witz der Sache noch nicht richtig vermitteln kann –, wie Foucault beim berüchtigten Leugner der Willensfreiheit Augustinus von Hippo (354-430 nach Beginn unserer Zeitrechnung) eine unorthodoxe Auslegung der Adam-und-Eva-Geschichte entdeckte:

 

Erstens seien Adam und Eva nicht die einzigen Menschen im Paradies gewesen, da es doch bei Moses 1.9 und 18 unmissverständlich heiße "Seid fruchtbar und mehret auch", führte Augustin aus, und Sexualität und Kinderbekommen sei damals etwas "wie Speise" gewesen, gar nicht als Sex wahrgenommen worden, da zwar – vor dem Sündenfall und dem Essen vom Baum der Erkenntnis – Adam und Eva und mit ihnen die anderen Menschen im Paradies durchaus nackt gewesen seien, aber: ihr Geschlecht sei in das "Gnadenkleid" eingehüllt gewesen, welches, so Foucault auf Grund von Augustin, "dafür sorgte, dass einerseits ihre Glieder nicht gegen ihren Willen aufbegehrten und dass man ihm andererseits und infolgedessen keine Aufmerksamkeit schenkte" ("Geständnisse des Fleisches, S. 448).

 

Mobilisierung gegen Beleidigungen

 

Immerhin gehe ich im Rahmen dieser Reihe "About: Sex" dann doch noch zu Didier Eribon, dessen Buch "Betrachtungen zur Schwulenfrage" ("Réflexions sur la question gay", 1999) im Dezember 2019 bei Suhrkamp herauskommen soll und die Vorarbeit für sein Prosawerk "Rückkehr nach Reims" (französisch 2009; deutsch bei Suhrkamp 2016) war, wie er vor dem Publikum erklärt.

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Der französische Autor Eribon legt am 21.9.2019, dem Schlusstag des Festivals, überzeugend dar, wie das eigene Reden über schwules Begehren am Anfang in erster Linie der Versuch war, den "Beschimpfungen" ("insultes") zu entgehen, die gegen Schwule und Lesben ertönten, aus der "Tiefe der Geschichte". Eribon erklärt, er habe da durchaus an Jean-Paul Sartres Buch "Saint Genet, Komödiant und Märtyrer" (Rowohlt 1982; französisch 1952) angeknüpft, der mit den Benennungen Genets durch Öffentlichkeit und Kritik beginne.

 

Auch Didier Eribon wurde mit diesen Beleidigungen konfrontiert, ja, sie gingen dem Gefühl des ersten Begehrens lange voraus. Von je her, schon als Kind, hörte er sein Prolo-Vater gegen Gesichter im Fernsehen schimpfen, von denen er zu wissen glaubte, sie seien homosexuell.

 

Keinen Ruhm erwarb sich die Psychoanalyse, als sie – um 1900 entstanden – das alte Vorurteil der Perversion übernahm. Didier Eribon bekam auch das noch zu spüren: "Ich wollte nicht geheilt werden" ("Moi, je ne voulais pas qu'on me guérisse"), erklärt er dem Berliner Publikum. Der Diskurs wirke in Frankreich noch immer nach, etwa in den Debatten über Ehe und Adoptionsrecht bei Schwulen. Eribon kann dann aber fast nicht mehr aufhören, gegen "die" Psychoanalyse auszuteilen, gegen "Ödipus- und Katrationskomplex". Mit dem Titel "Der Psychoanalyse entkommen" hat Didier Eribon auch ein Buch dazu geschrieben (Turi + Kant 2017; französisch 2005).

 

Die Diskussionszeit reicht nicht für alle Fragen – und ich gehe nach der Veranstaltung an seinen Tisch, und sage ihm auf Französisch: "Von Ödipus wurde schon zweitausend Jahre vor Freud gesprochen. Ich hoffe, sie lassen Monsieur Freud wenigstens ein Gran Weisheit. Und Foucault selbst hat in einem Aufsatz erklärt, dass er mit drei Namen zu denken begonnen hat: Marx, Freud und Nietzsche." – Das wisse er schon, antwortet er, mit ausweichendem Lächeln, er habe das nicht genauer darlegen können ...

 

Na immerhin, denke ich.

 

Auch auf Grund der feministischen Kritik gegen ähnliche Vorurteile (Penisneid u.a.) sah sich psychoanalytisches Denken genötigt, sich selbst in Frage zu stellen und sich weiterzuentwickeln; Grundlage dazu bleibt etwas, das die Psychologie mit dem literarischen Schreiben immer schon geteilt hat: die Erfahrung des Unbewussten, der Träume, die Mechanismen der Verdrängung, das Phänomen der Projektionen usw.

 

Zauber

 

Wie zum Beweis, wie sehr der Zauber des Unbewussten die Literatur bestimmt, stellte der 1968 geborene bulgarische Autor Georgi Gospodinow als Letzter in der Reihe "Literaturen der Welt" am 21.9.2019 seinen Band mit Erzählungen "8 Minuten und 19 Sekunden" (Droschl 2019) vor. Bekannt wurde er mit dem

Roman "Physik der Schwermut'" (Droschl 2014; dtv 2016), und er ist vielleicht der geistreichste Sprachkünstler der 19. Ausgabe es Internationalen Literaturfestivals Berlin.

 

Gospodinow erläutert, wie ihm seine Großmutter jede Nacht flüsternd aus der Apokalypse der Bibel vorlas, die unter dem Kommunismus noch verfemt und darum in ein Platt der Parteizeitung eingebunden war. Gospodinow, damals noch ein Kind, ist überzeugt, dass persönliche Geschichten und Biografien mehr über eine Zeit erzählen als die große Geschichte. Für uns Menschen sei auch der Zeitverlauf ganz anders als in historischer Hinsicht, "allein dadurch, dass wir nicht auf Dauer hier sind".

 

Der Moderator Thorsten Dönges streicht hervor, wie wunderbar Gospodinow große und kleine Geschichte zusammen bringe. – "Einsprengsel", "Haltepunkte" und "Unterbrechungen" habe er gern in seinen Büchern, gibt Gospodinow zu und erklärt zur Erheiterung des Publikums: "Ein Roman ist keine Arie!"

 

Verpasst habe ich trotz ungezählter besuchter Veranstaltungen doch auch Vieles, zugegeben, weil jeden Abend doppelte und dreifache Veranstaltungen stattfanden. Nicht unterschlagen möchte ich daher, was mir der Moderator der Gospodinow-Lesung anvertraute, dass ihn die Lesung der 1991 geborenen nigerianisch-britischen Romanautorin Chibundu Onuzo ("The Spider King's Daughter", 2012; "Welcome to Lagos", 2016) zu Tränen rührte und auch den Saal ergriffen zurückließ.