Die Leute drängen sich eng an die Hausmauern, um einen knappen Meter Schatten auszunutzen. So hoch steht die Sonne auf Hiddensee. Im Restaurant "Inselfisch" gegenüber der Rettungsstelle in Vitte klagt ein Kind – es ist noch in einem Alter, wo der Klang der Stimme das einzige und das überzeugendste Argument ist. Worte werden nie wieder diese Kraft besitzen, andere Menschen umzustimmen. Das ist die bitterste Lektion für die Kinderseele, die sich doch so sehr danach sehnt, erwachsen – und endlich verstanden zu werden.
Das Rathaus der Insel liegt in Vitte. Der Polizist sei unterwegs, steht an der Tür, und die Buchhalterin weiß noch nichts von dem Vorfall. An der Informationsstelle im Hafen von Vitte erkundigt sich eine Frau für mich telefonisch bei ihrer Vorgesetzten. Ich muss bis zwei Uhr warten, um vielleicht Klarheit über den tragischen Todesfall zu bekommen, der sich tags zuvor im Nachbarort Neuendorf ereignete. Aber ich komme auch da nicht weiter.
Die Person sei "leider mausetot", hatte mir am Morgen dort ein Einheimischer, der mit anderen vor einem Gewerbehaus im Neuendorfer Hafen saß, lakonisch und mit einer mir rätselhaft vorkommenden Heftigkeit und Brutalität gesagt, als ich ihn fragte, ob er wisse, was da gestern war. Es sei eine Frau gewesen. »Nicht von hier, nein. Die von Hiddensee gingen "nicht baden, und wenn, dann nicht da".
Von einem guten Freund und seiner Freundin nach Hiddensee eingeladen, waren wir an jenem 12. Juli 2018 gegen 20 Uhr zu dritt an jenem sich zur rauen, weiten See öffnenden Strand von Neuendorf aufgebrochen. Als wir zum Pfad über die Dünen schritten, sahen wir noch eine Gruppe letzter Verbliebener in ausgesprochener Feierlaune vor ihren weißen Strandkörben mit dem blauen Polster stehen. Die Holzroste, mit denen die Körbe nachts zugesperrt werden, hatten sie kunstvoll zu einem hohen Bartischchen mit zwei Seitenwänden, einer Querstrebe und einem Deckel zusammengestellt. Angeheitert beugten sie sich über Teller mit Häppchen und Gläser mit Flüssigem. Hinter ihnen flatterten die gelbblauen Hiddenseer Wimpel mit dem Seepferdchen im Wind. Die kleine, westlich von Rügen in der Ostsee liegende Insel ist so schmal und langgezogen, dass ihre Form dem Wappentier gleiche, heißt es.
Wir nahmen den sandigen Dünenübergang und setzten uns keine zweihundert Meter dahinter auf die Terrasse des Restaurants Stranddistel, als kurze Zeit später ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene, Minuten später ein Rettungswagen und schließlich noch die Feuerwehr den schmalen Weg herankamen.
Wir hätten uns sonst möglicherweise noch den Sonnenuntergang angesehen. Meinen Gastgeber zog es zum Strand zurück, aber die Gastgeberin wehrte ab, und mir war in den kurzen Hosen schon kalt. Es war mein erster Tag. Ich begann erst zu begreifen, dass hier nicht das Mittelmeer war und nachts an der Ostsee eine andere Jahreszeit herrscht als tags. Auch wollte ich kein Schaulustiger sein. Sicher sei der Zugang auch mit Polizeibändern abgesperrt, sagte ich.

Meine Ferienlektüre ist ausgerechnet "Lincoln im Bardo" von George Saunders. Er erzählt am Beispiel des im Kindesalter verstorbenen Sohnes des US-Bürgerkriegs-Präsidenten von Seelen Verstorbener, die sich um eine Aufbahrungshalle scharen – in einer Art Zwischenreich. Sie schrecken noch davor zurück, sich auf die Reise zu einem diamantenen Raum zu machen, der sich je nachdem zu einem lichten Paradies oder zu einer blutig geschilderten Hölle öffnet, und wo zwei Engel die Seelen der Ankommenden prüfen.
Während ich in Vitte lesend warte, höre ich Pferdegetrappel. Außer den Einsatzfahrzeugen gibt es auf der Insel noch einen Kleinbus, sonst sind nur Fuhrwagen und Fahrräder erlaubt. Eine Sirene geht. Die Tore der freiwilligen Feuerwehr gehen auf. Ein Boot sei gekentert. Wenig später erfahre ich, die Sache ging gut aus.
Auf meine Frage wegen gestern weiß der Feuerwehrmann nur, dass in Neuendorf eine Leiche geborgen wurde. Mehr kann und will er nicht sagen. Auch bei der "Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger" im Gebäude daneben erfahre ich nicht mehr. Ihr Boot, die "Nausikaa", liegt vertäut an der Hafenmauer und liegt sowieso auf der falschen Seite der Insel. Im Nachmittagslicht erscheint hier der sogenannte Bodden, der sich bis hin zum schmalen Streifen Festland mit der Stadt Stralsund in der Ferne erstreckt, tintenblau und ohne Wogen. Nur der Wind kerbt Schattenfurchen in den zwischen die Ufer eingelassenen Riesenedelstein.
Mit dem Bus kehre ich nach Neuendorf zurück, bleibe im Hafen ein paar Meter von den Männern entfernt stehen, mit denen ich morgens sprach. Denn sie sind mit sich beschäftigt. Einer hat im Einkaufsladen kleine Fläschchen mit Klarem geholt und verteilt sie. »Hast du im Lotto gewonnen?«, wird er gefragt. Da sehe ich, wie jenseits der Wiese ein Wagen der Neuendorfer Feuerwehr vorfährt. Ich gehe hin. Aber auch hier dieselbe Antwort: "Wir dürfen nichts sagen."
Ich kehre zu den Männern im Hafen zurück. Nun richten sie die Augen auf mich – ich muss also reden. "Ich komme nochmals wegen der selben Geschichte", sage ich. – "Erst mal interessiert uns das nicht. Wir wissen nur, dass ein Leichnam abgeholt wurde", antwortet der Mann vom Vormittag. – Ich erkläre, im Rathaus von Vitte wüssten sie noch von nichts. – Er sagt nur: "Wenn im Süden was passiere wissen die das im Norden nicht, und umgekehrt." – Ich erkläre: "Das einzige, was ich wissen muss, ist, ob die Personen ertrank oder an einem Herz-Kreislauf-Problem verstarb." – "Warum müssen Sie das wissen?" – Verzweifelt antworte ich: "Manchmal fällt mir eine Geschichte auf den Kopf. Ich wollte mich hier nur zwei Tage erholen. Diese Geschichte geht einfach noch nicht auf!"
Ich gehe zum Strand. Auf dieser Seite der Insel, die sich zur Ostsee öffnet, herrscht starker Wellengang. Die Station der Rettungsschwimmer hat noch auf. Gestern war sie bis 17.30 Uhr besetzt, erklärt einer der zwei jungen Männer. Was er sagen könne, sei, dass es nicht am überwachten Strandabschnitt geschah. Gerüchteweise sehr viel weiter runter oder rauf – zeigt er mit den Händen. "Das hörte ich über Buschfunk und stille Post. Ich weiß nicht, was wahr ist."
Dann sagt der zweite Lebensretter, während er skeptisch den hellen Kinnbart kräuselt, er finde, darüber soll nicht mehr geredet werden: "Jemand ist gestorben. Das ist traurig. Dann ist Schweigen geboten." – Ich widerspreche: "Menschen wollen aus Geschichten lernen." Was geschehen sei, müsse erzählt werden. "Ohne Zusätze", füge ich hinzu. Damit gibt er sich zufrieden.

Noch einmal kehre ich nach Vitte zurück. Hinter dem fest verankerten, doppelwandigen und sturmsicheren Zeltkino befinden sich im Schatten eines Sendemasten mit Gitterleiter die Ställe für die Fuhrwerkpferde der Insel. Sonst sind sie auf einer Weide. Sie sind stämmig, die meisten hellfarben mit strohblonden Mähnen, und pflegen deutlich sichtbar untereinander Liebschaften – sanft reiben sie sich je zu zweit seitwärts die Köpfe, sobald sie 'von der Arbeit' kommen und sich wiedersehen.
Stürme gebe es im Frühjahr und Herbst, ab und zu im Winter und im Sommer, erzählt der junge Kinobetreiber. Der Saal für die nächste Vorführung ist bereits halb voll.
Zu Fuß gehe ich auf einem staubigen Feldweg unterhalb des Deiches nordwärts die Insel hoch, zum dritten Ort auf der Insel namens Kloster. Gelb liegen die hohen Gräser im Wind. Vögel zirpen und zeigen an, dass es Abend wird. Die Sonne aber steht noch eine ganze Handbreit über der Ostsee. Schwalben jagen in unfassbaren Flugkunststücken. Drei Viertel des Gesichtskreises ist Himmel. Das tiefe Blau der Luftschale über der Insel hellt sich gegen den Horizont zu einem verwaschenen Weiß auf. Hinter dem Schilf und dem nun schon violetten Wasser erscheint Rügen als schmales grünes Band.
Kloster wirkt wie eine Waldstadt. Am bereits geschlossenen Gerhart-Hauptmann-Haus vorbei geht es bergan. In der Lietzenburg, einer beinahe dornröschenhaft zu gewachsenen Villa, trägt die Hiddenseer Autorin Marion Magas Inselgeschichten aus ihren Büchern vor. Nach der Lesung spreche ich sie auf den tragischen Todesfall an. Sie meint, manchmal würden durch die Strömung auch Ertrunkene von der weit im Westen liegenden Ostseeinsel Darß angespült.
Mein Gastgeber und meine Gastgeberin brechen kurz vor 22 Uhr mit mir auf. Es gibt einen schmalen Dünenweg – gepflastert, aber voll weißen Sands. Die Ostsee ist von dunklem Türkisblau. Die sich brechenden Wellen werfen schwarze Schatten. Darüber liegt violett-rosa ein Dunst- und Wolkenband. Die Düne ist mit Heiderosen überwachsen.
Anderntags, kurz vor der Abfahrt, durchquere ich noch einmal den sandigen Pfad über die Dünen.
Die Dämonen- und Jenseitsgeschichte von George Saunders habe ich, wenn auch aus einem gewissen Widerstreben stellenweise nur flüchtig, zu Ende gelesen. Ich glaube nicht an so was. Aber berührt hat mich das Erzählmotiv des Autors: dass der Tod darin bestehe, ein Leben – das eigene, das einer geliebten Person – zurück zu geben. Zum Schluss lässt Saunders durchblicken, dass er den Tod als ein Stillstehen der Zeit auffasse: auf ewig einen Augenblick zu leben. Aber ich frage mich, warum aus der unendlichen Reihe gelebter Momente nur einen Augenblick?
Olivgrün wältzt sich die Ostsee heran. In vier Reihen brechen sich die Wellen. Das frische Sehgras, das sie mitführen, liegt hellfarben auf dem glatten, feuchten Teil des Ufers. Weiter oben, im trockenen, feinen weißen Sand, sind die Schlingpflanzen schon ausgedörrt und dunkelbraun.
Leute waten in der Brandung, hüpfen mit den Wellen, die ihren Körper hochheben. Wer den Strand entlang geht und gesenkten Blicks und mit tastendem Fuß Muscheln sucht, trägt Jacke. Der Himmel ist bewölkt. Es geht starker Wind, aber regnen wird es nicht.
Ich nehme die weiße Feder eines Seevogels mit vom Strand. Sie verfing sich am Rand des Dünengrases.

PS:

Die Pressesprecherin der Polizeiinstpektion Stralsund teilte am 16. Juli 2018 mit:

"Bezug nehmend auf Ihre Anfrage kann ich Ihnen mitteilen, dass wir am 12.07.2018, gegen 20:00 Uhr, auf Hiddensee am Strand von Neuendorf einen gemeinsamen Polizei- und Rettungseinsatz hatten, nachdem eine leblose weibliche Person am Strand aufgefunden wurde. Der eingesetzte Notarzt konnte nur noch den Tod der 43-jährigen Urlauberin feststellen. Die Todesursache ist derzeit noch ungeklärt. Es wurde ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet. Die weiteren Maßnahmen werden über die Staatsanwaltschaft Stralsund entschieden."

Dort erklärte der zuständige Pressesprecher am 20. Juli 2018, "auf Ihre Anfrage teile ich Ihnen mit, dass nach dem Ergebnis der rechtsmedizinischen Leichenöffnung eine Verursachung des Todes durch Dritte (z. B. ein Gewaltverbrechen) ausgeschlossen werden kann. Ich bitte um Verständnis, dass weiteren Auskünften die Persönlichkeitsrechte der Verstorbenen sowie etwaiger Angehöriger entgegenstehen."

Ich antwortete gleichen Tages:

"Selbstverständlich liegt mit viel am Persönlichkeitsschutz der am 12. Juli 2018 am Strand von Neuendorf auf Hiddensee verstorbenen Person.
Aber zu erfahren, ob an dem Tag ein Mensch auf Hiddensee ertrunken ist, wäre doch sicher als im öffentlichen Interesse liegend zu bewerten - sei es auch nur zur Mahnung, die öffentlichen Warntafeln zu beachten, klugerweise nur an den überwachten Stränden zu baden und nie ohne Begleitung weit hinaus zu schwimmen.
Aus diesem Grund gehe ich davon aus, die Staatsanwaltschaft Stealsund hätte keine Bedenken gehabt, in einem solchen Fall zu erklären, es wäre jemand ertrunken oder ein unbekannte tote Person, die tage- oder wochenlang im Wasser trieb, sei angespült worden - wer könne allenfalls Angaben über vermisste Personen machen.
Das scheidet folglich nun beides als Möglichkeit aus.
Genau gleich wäre eine Benachrichtigung der Öffentlichkeit erfolgt, wenn ein Verbrechen vorgelegen hätte - das Sie glücklicherweise auf Grund der Obduktion offiziell ausschließen können.
Bleibt nur die Schlussfolgerung, dass die Verstorbene am Strand zusammenbrach und möglicherweise an einem Herz-Kreislaufversagen starb, oder aber in einer vermeintlich ausweglosen persönlichen Krise an jenem schönen Abend kurz vor Sonnenuntergangs im Sand dem eigenen Leben selbst ein Ende setzte.
Da einer der Rettungsschwimmer, die ich anderntags befragte meinte, der Fundort hätte nach Hörensagen in etlicher Distanz zum Strandabschnitt, an dem wir waren und wo sich auch die erhöht liegende Hütte mit dem Ausguck der Lebensretter befindet (die zu dem Zeitpunkt nicht mehr besetzt war), kann ich mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Tote nicht zu der kleinen Festgesellschaft gehörte, die zuletzt noch am Stand blieb, sondern eine der Strandspaziergängerinnen war, der ich vielleicht sogar für die Dauer eines Wimpernschlags begegnete, ohne schon zu wissen, was für eine tragische Geschichte uns nun auf immer indirekt verbindet.

Zitiert: George Saunders, Lincoln in Bardo. Luchterhand, München 2018.