Es ist nicht die Pest - doch das Virus mit Namen Corona und die Pandemie, die es auslöste, rufen nicht nur die in früheren Jahrhunderten aus Not eingeübten medizinischen Maßnahmen ins Gedächtnis zurück, sondern auch die archaische, mit Ängsten verbundene Unvernunft. Sind wir gegen sie gefeit?
Verschwörungstheorien sind heute nicht mehr alten religiösen Ursprungs. Eine der ältesten Verschwörungstheorien war - seit Augustinus - der christliche Glaube an den Teufel als Urheber alles Bösen. Die Form dieses schrecklichen Mythos hat sich erhalten. "Verteufelt" werden heute nicht mehr angebliche Hexen und Hexen. Als Opfer herhalten müssen wahlweise andere. Sie sind leicht austauschbar. Ein Glück, dass die medizinische Forschung und das Folterverbot die schlimmsten Formen paranoider Suche nach scheinbaren Schuldigen verhindert.
Die Ansteckungstheorie übrigens setzte sich erst mit Pest durch, die 1664 in Venedig ausbrach, 1665 und 1666 in London wütete und noch 1669 im schweizerischen Gebirgsort Grindelwald mehrere Hunderte Menschen - zwei Drittel der dort Lebenden - tötete: die örtliche Bevölkerung im Berner Oberland zahlte diesen hohen Preis, weil sie sich den Schutzempfehlungen der aus Bern herbeigerittenen medizinische Helfer starrköpfig widersetzte, sich nicht davon abhalten lassen wollte, Sterbende zu besuchen und ihnen aus nächster Nähe Trost zuzusprechen.
Insbesondere weigerten sich die Grindelwalderinnen und Grindelwalder, die Bettwäsche, Decken und Kleider der an Pest verstorbenen Verwandten zu verbrennen, sondern verteilten sie untereinander als rechtmäßiges Erbe, ohne zu wissen, dass sie damit die ansteckende Krankheit oder Contagion, wie die Pest genannt wurde, auch in die bislang verschonten Häuser trugen.
Der Übertragungsweg wurde erst Ende des 19. Jahrhundert bekannt, mit der Entdeckung des Pest-Bakteriums, das durch Flöhe verbreitet wurde, die auf der früher in Europa heimischen schwarze Ratte siedelten, die inzwischen durch die graue Ratte verdrängt worden ist.
Doch zurück zum 17. Jahrhundert: Eine jüngere Generation, die in Bern für eine rationale Philosophie stritt und den in Berner Landen besonders schlimmen Hexenverfolgungen ein Ende zu setzen suchte, wurde durch die Pest der späten 1660er Jahre weit zurückgeworfen.
Es sollte noch einmal zehn Jahre dauern, bis das Übel irrationaler Schuldzuweisungen endlich überwunden war. Bern war damals der größte Stadtstaat nördlich der Alpen, und sein Territorium reichte bis ans Ufer des Genfer Sees.
Ein Roman über diese mühseligen Kampf gegen eine fundamentalistische Weltdeutung, gegen irrationale Ängste vor Frauen und Hexerei, gegen erfolterte Scheingeständnisse und Todesstrafe beendete ich als Manuskript im Februar 2019.
Der Verlag steht noch nicht fest (© Liepman Agency, Zürich).
Hier aus aktuellem Anlass ein paar Auszüge.
aus Teil III, Kapitel 36:
Der Dezember 1664 kam, und Stadtmedicus Bogdan wurde vom Rat vertröstet: »Ob eine medizinischen Schrift über die Seuche der Pestilenz ratsam ist, können wir jetzt noch nicht entscheiden. Zusagen können wir Ihnen gar nichts. Vielleicht wird diese himmlische Strafe auch von der Grenze unseres Landes abgewendet. Der Konvent der Geistlichen berät bereits über strengere Sittengesetze.«
Dann zeigte sich am ersten klaren Dezembermorgen seit langem, in aller Früh, noch vor Tagesanbruch und dem Läuten der Morgenglocke, über Bern unzweideutig ein Komet mit feurigen Schweif. Die Stundenrufer und Angehörigen der bewaffneten Nachtwache schickten die in helle Aufregung geratenen Bürgerinnen und Bürger nicht in ihre Häuser zurück, sondern legten den Kopf ebenfalls in den Nacken.
»Ein Warnzeichen«, sagten die einen. »Das lässt ein schlimmes bevorstehendes Unglück bei uns erahnen. Hoffentlich nicht die Pest! Auf jeden Fall werden Leute sterben!«
Auch Stadtarzt Bogdan hatte sich in einen Mantel gehüllt und trat, vom Lärm geweckt, mit Schlafmütze und bloßen Hausschuhen hinunter auf die Gasse. Zu seiner Frau Katharina, die mit Nachthaube und Schal frierend neben ihm stand, sagte er: »Hör nicht auf die Leute, das ist Aberglaube. Die Drei Könige Caspar, Melchior und Balthasar, Weise aus dem Morgenland, sahen auch einen solchen Stern, und mit Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenken folgten sie dem Schweif zur Krippe nach Bethlehem. Warum sollte uns der Komet also nicht im Gegenteil etwas Gutes verheißen?«
Der Spektakel wiederholte sich etliche Tag. Schließlich stieg Dekan Hummel auf die Kanzel des Münsters – mit einem Gesicht, von dem alle wussten, was es geschlagen hat. Unheil drohte.
»Zwar ist nur Gott dem Herrn bekannt, was für eine Bedeutung der ungewöhnlichen, außerordentlich Komet oder Stern hat, der sich seit etlichen Morgen am Firmament des Himmels zeigt. Aus seiner Form aber und den Folgen, die jener letzte, anno 1618, hatte, ist zu befürchten, dass er uns den brennenden Zorn Gottes anzeigt, den das übermächtige sündige Tun der Menschen entzündet hat. Zu begegnen ist der angekündigten Strafe des wiewohl langmütigen, nun aber durch unsere Schuld erzürnten, gerechten Gottes auf keine andere Weise als durch herzliche Reue und Buße über die im Schwang gehenden Sünden, indem wir den allgütigen Gott inniglich bitten, den ausgestreckten Arm mit der Zuchtrute wieder sinken zu lassen. Es sollte uns deshalb angelegen sein, das bereits mehrfach erlassene Verbot allen überflüssigen Essens und Trinkens zu erfrischen, uns des Anstands, der Zucht und Ehrbarkeit zu befleißigen, alle Gast- und Freudenmähler zu Neujahr abzusagen und auf keinem Wege mehr Üppigkeit zu erlauben, auch nicht an solchen in den eigenen Häusern, noch viel weniger ist das Aufspielen von Geigen zu gestatten.«
Der hochlöbliche Rat der Stadt Bern setzte die geforderte Verschärfung der Sittengesetzgebung umgehend in Kraft. Ab acht Uhr abends sollte in allen Gesellschaften, Zünften und Wirtschaften die Lichter gelöscht und die Leute unerbittlich nach Hause und zur Ruhe gewiesen werden. Dem Chorgericht wurde befohlen, Aufsicht zu halten und die Fehlbaren zur Verantwortung zu ziehen. Spielleuten wurde Gefangenschaft und Ausweisung angedroht.
Fidele Weisen waren fortan in keiner Gaststube mehr zu hören. Wer Geige spielte, versteckte sie oder verließ die Stadt. Die Drohung war unmissverständlich.
Kurz vor Weihnachten kam Stadtmedicus Bogdan, der sich erneut zugute schreiben konnte, einen ganzen Tag nüchtern geblieben zu sein, grollend nach Hause.
»Stell dir dieses Ärgernis vor, Katharina, sie haben den Tabakaufseher Greyerz erwischt! Er drehte in den Wirtshäusern und Gesellschaftshäusern seine Runden, angeblich schaute er darauf, dass niemand rauchte. Stattdessen ließ er sich mit großem Aufwand gastfrei halten, kündigte sich stets schon draußen auf der Treppe laut an, damit wem auch immer Zeit blieb, die Pfeife wegzustecken. Und jetzt kommt aus: er trieb selbst mit beschlagnahmtem Tabak Handel, wurde dabei zunehmend unvorsichtig. Statt ihn zu vernichten, verkaufte er ihn zuletzt unter offenem Himmel.«
aus: Teil III, Kapitel 7
Bogdan führte genau Buch: Ende des Jahres 1665 schien die Pest in London schon vorüber gewesen zu sein, dann brach sie im Frühjahr des laufenden Jahres 1666 nochmals aus; nun wurde gemeldet, im September sei an der Themse eine verheerende Feuersbrunst ausgebrochen – seither sterbe niemand mehr an der Seuche, aber sie wüte noch in Cambridge und anderswo auf der Insel. Und seit August sei Köln wieder pestfrei, Frankfurt aber noch nicht. Unterdessen verbreitete die schreckliche Plage sich im Elsass, verschone aber noch immer Straßburg, das niemanden ohne Gesundheitsattest durch die Stadttore lasse …
Ein Läufer klopfte – der Stadtmedicus werde gerufen. Der gefaltete und versiegelte Ratszettel befahl ihm, eine junge, zum Tode verurteilte Frau zu untersuchen, gemeinsam mit der Hebamme – ob keine Schwangerschaft vorliege, was ein letzter Hinderungsgrund für die Hinrichtung wäre.
Als der Wächter die Kerkertür aufstieß, nahm Bogdan die Laterne. Er blickte auf ihren Bauch, konnte aber nichts erkennen. So drehte er sich weg und ließ die Hebamme machen.
Zu Hause angekommen berichtete Bogdan seiner Frau: »Sieben Jahre lang trug sie auf ihren Reisen in Frankreich Männerkleider, Barbli Müller heißt sie, Babi nannte sie sich …«
»Babi Müller?«
»Jetzt fordert der Rat die Todesstrafe, und eine solche wird morgen förmlich beschlossen; in einem ersten Verfahren war sie noch aus dem Land verbannt, mit Ruten ausgestrichen und dem Berner Brenneisen gezeichnet worden; aber sie kehrte zurück – das kostet sie jetzt den Kopf.«
»Sie kleidete sich als junger Mann?«, fragte Maria Henzi in dem forschenden Ton, den er so gut an seiner Frau kannte – sie ließ dann keine Ruhe.
»Sie flehte mich an … es sei nicht ihr Wunsch gewesen, sie sei als Mädchen der Tante übergeben worden, der Schwester der verstorbenen Mutter. Auch der Vater war tot. Statt sie pflichtschuldig zu erziehen, steckte diese Tante sie in Männerkleider und befahl ihr, wegzuziehen.«
»Sie schickte sie fort? In Männerkleider, damit dem jungen Ding keiner eine Schande antue? Wovon wollte sie leben?«
»Sie hatte Liebschaften, stahl hie und da etwas, hatte Affären mit verheirateten Männern … So viele, dass das Chorgericht und die Geistlichkeit nun glaubt, dem Himmel ihr Blut opfern zu müssen«, versetzte Bogdan, »als wären wir wieder in heidnischen Zeiten angelangt, und müssten den Zorn übermächtiger Gottheiten mit Menschenopfern beschwichtigen – sie meinen, damit die Pest abzuwenden, die sich nähert, statt dass sie mein Traktat drucken, wie der Seuche zu begegnen ist, wenn sie uns erreicht!«
In einer feierlichen Zeremonie vor dem Rathaus wurde die Verurteilte gefesselt dem Henker übergeben. Bogdan, der in der Menge stand, konnte die junge Frau, die am Vorabend noch um ihr Leben kämpfte, kaum wiedererkennen. Im hochgeschlossenen groben Leinenkleid stand sie teilnahmslos da, konnte ihren Kopf kaum aufrecht halten. Er flüsterte dem Chirurgus Lang zu: »Die haben ihr was gegeben, sie schläft mit offenen Augen …«
Lang antwortete im leise ins Ohr: »Die wollen keine Gegenwehr sehen …«
Zwei Profossen stützten Babi Müller und ein Geistlicher redete auf sie ein, als sich der Zug am 20. Oktober 1666 in Bewegung setzte, hinab zur Unterstadt, über die Aarebrücke und den steilen gebogenen Weg hinauf zur Richtstatt. Sie musste niederknien, was sie widerstands- und wortlos tat – und die Bevölkerung in ihren Gefühlen ergriff. Da holte der Scharfrichter schon aus …
Wie um die unwillkürliche und laute Kundgebung der Trauer und des Mitleids der Umstehenden zu überwinden, bestieg Hummel sogleich das Podest, auf dem der abgeschlagene Haupt mit dem blutig nassen Haar neben dem jungen, noch pulsierenden Leib lag und begann die Predigt, die, um die Totgeweihten nicht unruhig zu machen, seit vielen Jahren schon erst im Nachhinein erfolgte:
»Babi Müller von Rüderswil im Emmental gebürtig musste sterben. Sorgloser Müßiggang ist das Ruhekissen des leidigen Satans; dann legt der Erzfeind des Menschengeschlechts gewiss sogleich sein Haupt in dieses müßige, durch fehlende Gebete öde gewordene Herz und versetzt es in Schlaf, wo immer ein Mensch sich in allerlei Sünden, Laster, böse fleischliche Gelüste und Begierden, in Hurerei und Ehebruch, Dieberei, andere Untugenden und böse Taten stürzt, bis der Teufel diesen Menschen, der in solchen Sündenschlaf geraten ist, in seinen Rachen zieht, hinab in das Gewölbe des ewigen Höllenpfuhls – wie wir denn dessen hier abermals ein erbärmliches Exempel haben, in Gestalt der jungen Weibsperson Barbli Müller, welche sich seit jungen Jahren, nachdem ihre Eltern gestorben waren, sich dem schädlichen Umherschweifen und dem Bettelwesen ergab. Anstatt dass ihre Verwandten sie zur Arbeit, ehrlichen Diensten und wahrer Gottesfurcht anwiesen, wurde sie ihrem Willen und dem Müßiggang überlassen, so dass sie in großer Unkenntnis Gottes und seines Wortes in Geilheit des Fleisches und Unehre aufwuchs; und um ihrem Vorhaben umso besser nachjagen zu können, ist sie sieben Jahren in Mannskleidern umher gezogen, wider das Verbot und das Gesetz Gottes im 5. Buch Moses, 22. Kapitel, Vers 5, wo ausdrücklich steht: Ein Weib soll nicht Männertracht und ein Mann nicht Weiberkleider anziehen, wer solches tue, der sei dem Herren, deinem Gott, ein Gräuel …«
aus: Teil III, Kapitel 11:
Bern aber schien wegen den Nachrichten über die Pestilenz nicht mehr dieselbe Stadt zu sein. Sorgenvoll gingen sich die meisten Menschen aus dem Weg. Der letzte Rest von Fröhlichkeit wich aus den Gesichtern.
Schon der Gehöreindruck war ein anderer: die Leute redeten leiser, mit leicht abgewandtem Kopf, um nur ja niemandes Atem zu verspüren.
Auf Anordnung des Rates war auch das Läuten der Kirchenglocken verkürzt worden – um das Gemäuer im Turm des Münsters weniger zu erschüttern. Bei der Vermählung von Gabriel Groß und Anna Maria Bondeli vermerkten das manche Gäste tuschelnd. Während des züchtigen Festmahls in der Gesellschaft zu Pfistern neben dem Zeitglockenturm, wo nicht mal eine Geige erklingen, geschweige denn getanzt werden durfte, beherrschte Angst die Gespräche. Drohte die bekannte Welt zusammenzubrechen?
Im Sommer zuvor, im August 1667, hatte die Seuche Basel erreicht und brach keine vierzehn Tage später auch im östlichsten Teil der Republik Bern aus – im Aargau. Da wütete sie noch immer.
Mit sich geschleppt hatte die Pest ausgerechnet ein ehemaliges Berner Landeskind, ein Täufer. Er hatte zu denen gehört, die unter der Bedingung, ihr Glück in der Fremde zu suchen und nicht zurückzukehren, aus der Berner Haft entlassen worden. Er zog ins Elsass. Als dort die Contagion, wie die Pestilenz wegen ihrer hohen Ansteckungsgefahr genannt wurde, ausbrach, überquerte er den Rhein und nahm, auf halbem Weg zwischen Colmar und Basel, im nahen Breisach eine Stelle als Totengräber an. Er erkrankte, als er half, die an der Pest Verstorbenen zu bestatten. Warum er noch in seine Heimat zurückkehrte, konnte er nicht mehr gefragt werden. Kaum in Strengelbach im Berner Aargau angekommen, war er schon eine Leiche geworden. Von dort aus fraß die Seuche um sich. Zofingen und andere Orte wurden infiziert. In Brugg starben fünfhundert, in den darum liegenden Gemeinden zweitausendfünfhundert, in der Bäderstadt Baden über tausend. Bern schnürte den Aargau durch Schutzvorkehrungen vom Rest seines Staatsgebiets ab und ordnete auch in der Hauptstadt die Beseitigung aller möglichen Ursachen von Gestank an – in der Überzeugung, Unrat trage nicht wenig zur Infektion bei: die Schweinehaltung wurde verboten; die Gassen und Ehgraben mussten jede Woche gereinigt werden. Niemand ohne Bescheinigung, aus einer Gegend mit gesunder Luft zu kommen, wurde an den Toren durchgelassen und die Bettler weit draußen vor den Mauern verköstigt. In Bern schrieb sich blankes Entsetzen in die Gesichter.
Auch Anna Maria Bondeli und Gabriel Groß der Jüngeren behielten ihre Hochzeit nicht unbedingt als fröhliche Feier in Erinnerung. Wegen der Pest war der Verkauf von Tabak-Kräutern einstweilen gestattet worden; jene, die beim festlichen Essen Pfeife rauchten und sich durch Qualmwolken Schutz versprachen, blieben von den Sittenwächtern vorübergehend unbehelligt – und nebelten die übrigen Gäste ein; andere, die auf die vorbeugende Wirkung von Wein schworen, kamen schon betrunken zur Trauung und schliefen an den Tischen ein.
Ebenso viel zu reden wie die Pestilenz gab die politische Umwälzung, die Bern inzwischen erfahren hatte.
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Schon als Euphrosyne Wurstemberger und Anna Maria Bondeli nacheinander in den Wehen lagen, gab es Gerüchte, dass die Pest auch in der Nähe von Bern ausgebrochen sei. Die neue Stadthebamme Barli Schneeberger, die von sich sagte, dass sie aus dem Emmental stamme, hatte über Weihnachten von Reisenden Näheres gehört und Anna Maria vertraulich davon berichtet.
Anna Maria befand sich im Kindbett und sah wohl, dass ihr junger Gemahl Gabriel sie nicht beunruhigen wollte und deshalb beharrlich schwieg. Sie aber sagte: »Ich habe geboren, bin nicht krank, das Kind und ich sind wohlauf – warum willst du mich schonen?« Auf ihr heftiges Nachfragen und Bitten hin musste er den Bericht der Hebamme bestätigen:
»Das Dörfchen Rüfenacht wurde abgesperrt. Was die Leute zum Essen benötigen, wird ihnen vor die Häuser gestellt – sie dürfen sich den Paketen aber erst nähern, wenn unsere Leute sich wieder entfernt haben. Ein Mädchen aber, das die Eltern unerlaubterweise nach Biglen ins Emmental in Sicherheit bringen lassen wollten, hatte sich bereits angesteckt – also musste auch Biglen von jedem Verkehr abgeschnürt werden … Die Schutzmaßnahmen aber zeigen Wirkung. Vorläufig gibt es keine neuen Fälle.«
Kurz danach aber schleppte ein alter Mann, der mit seiner Frau in Königsfelden gewesen war und zum Seengebiet im Berner Oberland zurückkehrte, die Pest mit sich. Schwerkrank, schwitzend bestieg er bei Thun das Schiff nach Interlaken – und verstarb noch während der Überfahrt. Seine Frau blieb von der Seuche nicht verschont – sie trug in den kleinen Ort Iseltwald am Brienzer See. Von dort verbreitete sie sich weiter und erreichte im Februar 1669 Grindelwald. Dort griff sie aufs Schrecklichste um sich. Von den deutlichen Zeichen – schwarz verfärbter Mund, pestilenzialischer Atem und Beulen in den Leisten, den Achselhöhlen und am Hals oder aber, bei Lungenpest, blutiger Auswurf und rascher Tod nach drei Tagen – erfuhr Bern aber erst verspätet und schickte Doktor Wilhelmi und einen Chirurgus hin, um die Lage in Augenschein zu nehmen. Schnell kehrten die wieder zurück und erstatteten rückhaltlos Bericht. Der Landvogt von Interlaken hatte Trauerfeiern um die Toten verboten, aber die Leute in Grindelwald würden sich nicht daran halten und einander unverändert Krankenbesuche abstatten.
Um den Beulen der Erkrankten mit Zugpflastern das Gift zu entziehen oder die Beulen aufzuschneiden oder auszubrennen, ritten, wenn auch erst mit großer Verspätung, der junge Chirurg Niklaus Tscheer und der Meister der Wundarznei Oppliger in den von Schneebergen umgrenzten Bergkessel von Grindelwald, räucherten die niedrigen Kammern der Verstorbenen und Erkrankten mit duftenden Hölzern aus, verabreichten den noch Lebenden schweißtreibende Mittel, sowie Theriak, Mithridat und Baldrian, schützten sich und den Pfarrer des Ortes, bei dem sie Unterkunft fanden, mit Holunderessig, Knoblauchbrot, Butterbroten mit Sauerampfer. Auch trugen sie Kräutersäcklein auf der Brust und unter den Armen – aber sie hatten nur wenig Erfolg, da die örtliche Bevölkerung ihre Ratschläge verschmähte und das schmerzhafte Aufschneiden der Pestbeulen verweigerte. Noch schlimmer: Die Trauernden verteilten die Hinterlassenschaft der Toten, seien es infizierte Leinwandtücher oder Kleider, unter sich und sogar an Erben von außerhalb.
Da schrieb der Grindelwaldner Pfarrer Johann Erb Mitte April 1669 verzweifelt nach Bern, wenn er nur genügend Augenwasser hätte, um den leidvollen Zustand seiner lieben Gemeindeangehörigen zu beweinen! Bald liege mehr als das halbe Tal darnieder.
Bis zu dem Zeitpunkt waren schon über hundert gestorben. Als die Seuche Ende Juli 1669 plötzlich endete, hatten fast 800 Menschen, zwei Drittel der Menschen in Grindelwald ihr Leben lassen müssen. Er, Pfarrer Erb, ließ bei sich die Beulen aufschneiden und überlebte, nur sein kleiner Sohn starb; das Töchterchen, das an Blattern erkrankte, die sie seltsamerweise vor der Pest schützte, wurde wieder gesund.
Inzwischen war die Seuche trotz aller Sperren schon im Mai auf das Haslital übergesprungen, wo bis Oktober 1669 über 1200 starben – überlebt hatte auch da wegen fehlender Einhaltung der Schutzmaßnahmen nur etwas mehr als ein Drittel. Auch Wengen, Lauterbrunnen, Frutigen und Adelboden wurden Opfer des schwarzen Tods.
Im Juli 1669 traf die bedauerliche Meldung ein, dass zusätzlich eine Viehseuche um sich griff – wie vermutet wurde, weil entweder verendete Tier ihres Felles wegen gehäutet oder die Kadaver statt verlocht zu werden in fließende Gewässer geworfen worden waren, wo sie dann auf grünen Inseln oder Sandbänken antrieben und weiteres Unheil anrichteten.
Solchem menschenmöglich zuvorzukommen sei obrigkeitliche Pflicht, befahl Bern: Metzger dürften keinesfalls Vieh aus angesteckten Orten kaufen, sondern sich nur an noch gesunde begeben und hätten an den Stadttoren beglaubigte Scheine vorweisen. So trug diese offensichtliche Viehseuche zur Verbreitung der Einsicht bei, dass plötzlich verendende Kühe, Ochsen und Pferde nicht das Werk von Hexerei seien …
Die Hauptstadt war aufs Höchste alarmiert. Sie riegelte sich nach Kräften gegen das Berner Oberland ab. Der Oberlauf der Aare wurde mit Pfählen und Ketten unpassierbar gemacht. Nur eine kleine, strengstens bewachte Öffnung verblieb.
Aber als in Aeschi unweit von Spiez – hoch über dem kalten Thunersee – der Pfarrer starb, ließ sich ein aufopferungsbereiter junger Kandidat der Theologie aus Bern überreden, seine Stelle einzunehmen; als auch er tödlich erkrankte, eilte seine Schwester hin, um ihn zu pflegen. Mit seinen Kleidern kehrte sie unbemerkt nach Bern zurück. Das Haus, in dem sie von der Pest geschwächt umsank, wurde sofort zugenagelt. Niemand durfte das Gebäude an der Schauplatzgasse verlassen, und jene, die sie nun bis zu ihrem Tod am 10. Oktober 1669 versorgten, wurden nachher in ein Pesthaus weit außerhalb der Stadt in Quarantäne gesteckt. In der Schauplatzgasse brach die Seuche im Januar 1670 noch einmal aus – erneut wurden die befallenen Häuser zugesperrt und alle Bewohner aus der Stadt hinaus in der Peststation verbracht. Erst Ende Februar 1670 war die Plage vorüber und im Juli 1670 wurden alle Inspektoren vor den Toren abgezogen.
Fröhlicher Lebenswille kehrte zurück, und so viele Menschen eben erst noch an einem einzigen Tage aus dem Leben schieden, so viele drängten sich nun vor den Kirchentüren, um Hochzeit zu halten. Beiderlei Geschlecht kleidete sich prächtiger als die Vogelwelt, mit farbigen Bändern im Haar oder am Hut, zarten Spitzen auf der Haut und luftig wallenden Ärmeln – zumal das noch vor der Pest erlassene Kopfschuck-Mandat den Frauen größere Freiheiten gestattete als in den Jahrzehnten davor. Statt den über die Ohren gezogenen Hauben trugen die Damen neu nach französischer Mode auf dem Haar eine durchsichtige Coiffe – einen leichten Florschleier, auch Florkappe oder Flitterhaube genannt, oder drehten sich wie am Hof von Versailles mit Brennscheren Kaskaden von Locken rund ums Gesicht, von der Stirn bis auf die Schultern.